Als ich vor einiger Zeit einen neuen Job anfing, gab es eine Vorstellungsrunde zwischen etwa 30-40 neuen Kollegys1. Alle stellten sich in einem Kreis auf und sollten ihren Namen und ihre Position nennen. Es war das diverseste Umfeld, was Altersstruktur, Geschlecht, Sprachen, Hautfarben anging, in dem ich bislang gearbeitet habe. Die dritte Person, die dran kam, nannte neben ihrem Namen und ihrer Funktion auch ihre Pronomen: „My name is Obi-Wan, he/him, I clean the spaceships“ (oder so ähnlich). Einige übernahmen das Schema und nannten ebenfalls ihre Pronomen.
Einige Tage später fragte mich ein etwas älteres Kollegy, als wir gerade beim Essen in der Kantine waren: „Sag mal, bei unserer Vorstellungsrunde hast du auch nach deinem Namen ’sie/ihr‘ gesagt – was bedeutet das, warum habt ihr das gemacht?“
Und ich bin bis heute noch dankbar und glücklich, dass das Kollegy diese Frage gestellt hat. Es hat offen, freundlich und interessiert nachgefragt, ohne einen Anflug von „Was soll dieser neumodische Quatsch schon wieder?“2 Aber nicht nur wie, sondern auch, dass es überhaupt gefragt und nicht nur etwas gesagt hat, hat mich gefreut. Gerade bei Themen, die so verkrampft diskutiert werden wie Gender, erlebe ich oft genug, dass es Menschen hauptsächlich darum geht, ihre Meinung herauszuposaunen. Oder sie fühlen sich unsicher mit dem Thema und reden deshalb am liebsten gar nicht darüber.
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Die US-amerikanische ehemalige Domina und Daoistin Kasia Urbaniak beschreibt in ihrem Buch „Unbound. A Woman’s Guide to Power“3 eine Art von Situation, die sie als „the freeze“ bezeichnet: du wirst mit einer unangenehmen, unangebrachten, beleidigenden oder verletzenden Frage oder Aussage konfrontiert und verlierst plötzlich jegliche Selbstsicherheit, Schlagfertigkeit, Wortgewandtheit, die du zu besitzen glaubtest. Du wirst rot und fängst an zu stottern. Kasia Urbaniaks Empfehlung, wie man sich aus diesen „freezes“ befreien kann, ist simpel: „Ask a question“. Dadurch soll der Fokus von dir auf die andere Person zurückgelenkt werden, du hast Zeit dich zu sammeln, während die andere Person unter Zugzwang steht.
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Vor einiger Zeit hatte ich ein Gespräch mit einem etwas älteren Kollegen (ich ent-gendere absichtlich nicht) während einer Straßenbahnfahrt. Es ging um bestimmte berufliche Skills, über die in unserer Szene nicht alle Kollegys verfügen. Dieser Kollege war offensichtlich stolz darauf, sich mit diesen Dingen beschäftigt zu haben, und erzählte mir jede Menge über seine Herangehensweise. Hätte er einmal nachgefragt, hätte er erfahren, dass auch ich mich schon mit diesem Themenbereich beschäftigt habe, und wir hätten in den Austausch gehen können. Da er das nicht tat, und da ich selten ungefragt Leuten etwas über meine (vermeintlichen) Fähigkeiten erzähle, war das Gespräch nichts weiter als ein klassischer Fall von Mansplaining4.
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Wenn ich Instagram öffne, dauert es oft nur so und so lang, bis ich einen ermutigenden Spruch in jemandes Story sehe: „Be kind to yourself and others“ oder „Tell your friends that you love them at least once a week“ oder „Let your light shine on the world“. Seid positiv, habt euch lieb, stärkt euer Selbstbewusstsein. Dagegen habe ich im Grunde nichts einzuwenden – ohne Freundys, die uns Bestätigung geben, ohne Respekt vor uns selbst hätten wir sicherlich eine Menge Probleme im Leben.
Andererseits studiere ich in Frankfurt, wo seit den Zeiten von Horkheimer und Adorno die sogenannte Kritische Theorie hoch gehalten wird (zumindest von manchen Leuten). Diese Theorie hat den Anspruch, nichts unhinterfragt stehen zu lassen, nicht einmal die eigenen theoretischen Dogmata (klingt widersprüchlich? – isses auch). Vor der Kritischen Theorie ist scheinbar nichts sicher: Empirie? Kann zu Ideologie werden. Hochkultur? Ist längst von kapitalistischer Verwertungslogik durchzogen. Linke Studierendenproteste? Sind faschismusgefährdet.
Beide Sichtweisen, oder vielmehr Lebenseinstellungen, haben ihre Vor- und Nachteile. Sehe ich immer nur alles positiv, werde ich kaum je nachhaltige Veränderung bewirken können; kann ich nichts und niemanden ohne Kritik davonkommen lassen, werde ich vermutlich irgendwann depressiv.
Ich glaube, das Nachfragen kann eine Brücke schlagen zwischen dem Positiven und dem Negativen, der Affirmation und der Kritik. Durch eine freundlich gestellte Frage kann ich Kritik auf wertschätzende und unterstützende Weise formulieren. Anstatt etwa zu sagen: „Ich finde es richtig scheiße, dass du das Kind gerade so angeschrien hast“, kann ich fragen: „Meinst du nicht, dass es wirksamer und angenehmer für euch beide wäre, wenn du in ruhigem und freundlichem Ton mit dem Kind reden würdest?“ Oder anstatt zu sagen: „Ich finde es enttäuschend, dass du so resigniert bist und keine Veränderungen in deinem Leben anstrebst“, kann ich fragen: „Was bräuchtest du, um die Kraft zu finden, ein neues Ziel im Leben zu verfolgen?“ Oder anstatt zu schimpfen: „Die Linke in Deutschland ist zu nichts zu gebrauchen“, kann ich fragen: „Woran liegt es wohl, dass in Deutschland kaum jemand links wählt?“ Ich zerschmettere mein Gegenüber nicht, sondern strecke meine Hand aus.
Um Kritik und Wertschätzung zu verbinden, brauche ich zwar nicht notwendigerweise eine Frage – ich könnte auch einfach sagen: „Ich sehe, dass du gerade gestresst und genervt bist und verstehe völlig, dass man sich nicht immer unter Kontrolle haben kann, doch trotzdem fände ich es besser, wenn du das Kind nicht so anschreien würdest“ – ich denke jedoch, dass die Frage eine noch bessere Grundlage für ein Gespräch bietet, weil sie mein Interesse an meinem Gegenüber und dessen Ansichten, Gefühlen und Wünschen noch deutlicher zum Ausdruck bringen kann.
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Kasia Urbaniak beschreibt in ihrem Buch gelingende Gespräche, z.B. zwischen zwei guten Freundys, als einen steten Wechsel der Gesprächspartnys zwischen der dominanten und der unterwürfigen Rolle. Eine Zeitlang kann eine Person das Gespräch dominieren, von eigenen Problemen und Erlebnissen erzählen oder eigene Sichtweisen darlegen, aber irgendwann sollte diese Rolle auch von der anderen Person eingenommen werden. Sonst kann schwerlich der oft beschworene Dialog „auf Augenhöhe“ stattfinden. Sicher fallen euch Personen ein, mit denen ihr regelmäßig genau solche guten Gespräche führt, bei denen ihr, um eine andere Metapher zu verwenden, den Ball hin und her spielt – und sind diese Personen nicht auch diejenigen, die besonders gut und aufmerksam nachfragen?
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Frage, schöner Götterfunken! Was sie nicht alles kann: sie kann ein Gespräch beleben, sie kann Wertschätzung und Interesse ausdrücken, sie kann eine Form der Selbstverteidigung sein, sie kann uns weiterbringen. Lasst uns einander mehr Fragen stellen!
Entsprechend beende ich meine kleine Ode nun mit einem Angebot: Wenn du möchtest, kannst du mich gerne etwas fragen.
- Nein, das ist kein Schreibfehler! ↩︎
- Es geht mir hier tatsächlich nicht darum, ob jetzt in jeder Vorstellungsrunde unbedingt immer Pronomen genannt werden sollen. Darüber kann man diskutieren – bevorzugt auf freundlich-interessierte Weise. ↩︎
- Ich empfehle das Buch, aber nicht uneingeschränkt. Frag mich gerne danach, bevor du es dir zulegst! Ich selbst habe einer lieben Freundin für die Empfehlung zu danken. ↩︎
- https://de.wikipedia.org/wiki/Mansplaining ↩︎