30 werden

Kürzlich bin ich 30 geworden. Da wurde ich ab und zu gefragt: „Und, wie fühlt es sich an?“

Dann fiel mir ein, dass ich vor einiger Zeit, als ich 27 war, regelmäßig auf die Frage nach meinem Alter geantwortet habe, ich wäre 28. Ich glaube, das lag daran, dass sich in jener Zeit der Gedanke in meinem Kopf festsetzte: „ich gehe jetzt auf die 30 zu“. Das fand ich zwar erst mal nicht weiter schlimm, aber eine kleine Nervosität stellte sich manchmal ein: hab ich alles gemacht, was ich in meinem Alter gemacht haben sollte? Müsste ich mich nicht mal ein bisschen beeilen?

Zum Beispiel: ich war mit 27 immer noch Studentin – und ich bin es auch mit 30 noch. Ein bisschen unanständig fühlt es sich manchmal schon an, wenn ich zum halben Preis ins Museum gehe, obwohl ich durch meine Jobs als Musikerin deutlich mehr verdiene als ein durchschnittliches Study1. Oder: in meiner ganzen Schul-, Studien- und Berufs-„Laufbahn“ habe ich nie Zeit im Ausland verbracht, außer um dort Urlaub zu machen. (Und einmal für eine Orchester-Tournee in China.)

Und, was mich vielleicht am meisten fuchst: mit 30 habe ich immer noch nicht geschafft, was ich seit langer Zeit will und mich gleichzeitig am wenigsten traue anzugehen (vielleicht schreibe ich ein anderes Mal darüber, warum das wohl so ist): mich als Geigerin so weit zu bringen, dass ich mich in einem Jazz-Kontext wohlfühle und mitreden kann – also nicht nur durch exzessives verbales Fachsimpeln, sondern auch durchs Spielen.

Was mich dagegen nie besonders gestört hat: ich besitze mit 30 kein Auto, habe trotz ziemlich lang bestehender Paarbeziehung nicht geheiratet, habe keine Kinder und keinen Vollzeitjob. Ich habe kein einheitliches Geschirr- oder Besteck-Set und putze selten die Fenster. Ich habe nie einen Wettbewerb gewonnen, habe nie das Tschaikowski-Konzert gelernt oder ein Stipendium erhalten. Und nun, da ich 30 bin und mich – große Überraschung – nicht anders fühle als mit 29, nehme ich das trotzdem einfach mal zum Anlass, um ein paar Dinge festzustellen:

Natürlich bin ich nicht „zu alt“ für irgendwas. Nicht zuletzt dadurch, dass ich noch ein zweites Studium begonnen habe, habe ich ein neues Vertrauen zu mir gewonnen: ich glaube, dass ich viele Dinge noch lernen kann, wenn ich möchte. Vielleicht nicht alle – Seiltanzen oder mich für Chemie zu begeistern gehört vermutlich eher nicht dazu, vielleicht werde ich niemals komplett hochdeutsch sprechen und nie lernen, wie ich beim Haare-Föhnen eine Rundbürste einsetze.

Dafür: einen schwierigen Text von Adorno lesen und dabei etwas verstehen. Auf Persisch noch mehr Sätze sagen können außer: „Die Maus ist klein, der Elefant ist groß. Auf Wiedersehen“2. Oder mit WordPress eine Website bauen. In Diskussionen mit Rechten gleich die passenden Argumente parat haben (nicht erst, wenn die Person weg ist und ich in Ruhe nachdenken konnte). Und vielleicht auch irgendwann: meine wirklich ganz eigene Musik machen. Ich glaube, dass ich diese Dinge schaffen kann.

Vielleicht bin ich mit 30 Jahren nun soweit, dass ich mir von niemandem mehr einreden lasse, ich sei zu alt für etwas. Oder zu jung: abends zuhause chillen anstatt Party zu machen, meine Freunde und Familie zur selben Feier einladen, Urlaub an der Ostsee – warum denn nicht?

Wenn ich mir etwas wünschen dürfte für das nächste Jahrzehnt, oder vielmehr für alle kommenden Jahrzehnte, dann wäre es dies: das Vertrauen auf meine Lernfähigkeit nicht zu verlieren, nicht zu resignieren und mir nie von irgendwem sagen zu lassen, was ich aufgrund meines Alters tun sollte und was nicht. Dazu gehört sicherlich auch die Bereitschaft, Gelerntes über den Haufen zu werfen oder zu korrigieren. Und Leuten zuzuhören, die Dinge anders machen oder anders sehen als ich. Oder die schon 89 oder erst 14 sind.


  1. …was zum Geier? ↩︎
  2. „Moush kouchak ast, fil bozorg ast. Khodaa negahdaar.“ ↩︎