Barockbogen – wozu?

Wenn ich Stücke aus der Zeit vor (ungefähr) 1750 spiele, benutze ich einen Barockbogen. Warum?

Ich fange vorne an: als Kind hörte ich zuhause Mozart und Bach überwiegend in Aufnahmen von den English Baroque Soloists, dem Freiburger Barockorchester oder dem Balthasar-Neumann-Ensemble1. Entsprechend irritiert war ich regelmäßig über Aufnahmen, die Bach mit fettem Vibrato darboten, mit Tönen, die bis zum Ende hin gleich laut blieben, oder in Tempi, die mir allzu träge vorkamen2. Soll heißen: die sogenannte „historisch informierte Aufführungspraxis“ fühlte sich für mich vertraut und richtig an.

An der Musikhochschule gab es dann gewisse Lehrys3, die als der historischen Aufführungspraxis zugeneigt bzw. als Expertys galten, und andere, die sich weniger dafür zu interessieren schienen – bei denen Bach z.B. mit mehr Vibrato gespielt wurde. Es blieb den Studys dann gewissermaßen selbst überlassen, sich für den einen oder den anderen Weg – oder beliebig gewichtete Zwischenlösungen – zu entscheiden. Ich hatte meinen Hauptfachunterricht nicht bei Expertys für die historisch informierte Aufführungspraxis, hatte aber nunmal die genannten Aufnahmen im Ohr. So fand ich schließlich für mich zu der Kompromisslösung, das moderne Instrument mit dem historischen Bogen zu kombinieren. Eine „moderne“ Violine hat ein bisschen andere Maße als ein historisches Modell, der hörbarste Unterschied liegt aber im Material der Saiten: moderne Saiten haben einen Kunststoff- oder Stahlkern, eine Barockgeige wird dagegen mit Saiten aus Schafsdarm bespannt. Ein Barockbogen ist anders gewichtet und insgesamt leichter als ein moderner Bogen.

Aber warum diese halbgare Zwischenlösung?

Nun, der wichtigste Grund – für mich – ist Bequemlichkeit. Saiten mit Kunststoffkern sind deutlich einfacher zu handhaben als Darmsaiten: sie lassen sich leichter stimmen, halten die Stimmung auch besser, sie sind nicht so witterungsempfindlich und das Quietschrisiko ist geringer. Und mit dem Barockbogen fällt es mir leichter, Stücke aus der Barockzeit so zu phrasieren, wie ich möchte – zum Beispiel geraten die vielen Akkorde in einer Fuge von Bach mit dem Barockbogen eher leicht und nicht so wuchtig wie mit einem modernen Bogen.

Allerdings ist die Idee von historisch informierter Aufführungspraxis eng verbunden mit dem Begriff der Werktreue. Die grundlegende Frage ist dabei: „Soll ein Werk so aufgeführt werden, wie es zur Zeit seiner Entstehung geklungen hat?“4

Nun mag für Außenstehende die Vermutung naheliegen, dass über diese Frage an Musikhochschulen täglich in Seminaren, im Unterricht oder in der Mensa debattiert wird. Und ich kann selbstverständlich nur aus eigener Erfahrung sprechen, aber ich habe das nicht so erlebt. In meiner Studienzeit war die Entscheidung für oder gegen die Beschäftigung mit historischer Aufführungspraxis eine Entscheidung, die Studys über die Wahl der Hauptfach-Lehrys trafen, und nach welchen Kriterien dies geschah, war nicht von besonderer Relevanz.

Wie stehe ich also zu der Frage nach der Werktreue und was hat mein Barockbogen mit der Antwort zu tun?

Hier muss ich vorausschicken, dass die Beantwortung der Frage für mich nicht abgeschlossen ist und ich nicht weiß, wann und ob ich sie abschließend beantworten kann. Denn eine andere Frage ist damit eng verbunden: Warum mache ich überhaupt diese westliche klassische Musik?

Mache ich westliche klassische Musik, weil es mir Spaß macht? Mache ich westliche klassische Musik, weil ich glaube, dass es ein Gewinn für die Menschheit ist, ihr zu lauschen? Mache ich westliche klassische Musik, weil ich mich dafür verantwortlich fühle, die Meisterwerke von Komponisten (bewusst nicht ent-gendert) wie Bach, Händel, Mozart etc. zu bewahren und immer wieder zu Gehör zu bringen? Mache ich westliche klassische Musik, weil und solange mir Leute dabei zuhören wollen?

Momentan tendiert meine Antwort auf die Frage, warum ich (immer noch und immer wieder) zum Beispiel die Solosonaten und -partiten von J.S. Bach spiele, hierzu: erstens macht es mir Freude, zweitens glaube ich, dass in dieser Musik irgendetwas steckt, was uns Hoffnung geben und was uns frei machen kann5. Und das ist nicht unmittelbar davon abhängig, ob ich das Stück mit einem Barockbogen oder mit einem modernen Bogen spiele.

Lasst uns also zurück zu Frage kommen: Warum ein Barockbogen? Genauer gefragt: Warum ein Barockbogen, aber keine Barockgeige/Darmsaiten?

Erstens: Weil ich auf diese Weise die Musik aus der Zeit vor 1750 so spielen kann, wie ich mich damit am wohlsten fühle.

Und zweitens: Weil ich die Werke von Bach, Telemann, Händel, Biber usw. nicht für Bach, Telemann, Händel, Biber usw. spiele, sondern für meine Zuhörys heute. Ich möchte mich keinen Dogmen beugen, die besagen, dass man Barockmusik so oder so spielen soll, sondern ich möchte sie so spielen, dass ich mich dabei wohl fühle und ohne es mir schwerer zu machen als es sein müsste. Denn ich bin überzeugt: je wohler ich mich beim Spielen fühle, desto wohler fühlt sich ein Publikum beim Zuhören. Und desto besser gelingt es mir, das zu vermitteln, worum es mir geht.

Ein kleines bisschen Geschmacksrelativismus steckt also in meiner Antwort, jedenfalls in Bezug auf die Wahl des Stils – ob jemand Bach nun „historisch informiert“ spielt oder nicht, ist mir erst mal egal, denn ich glaube immer noch: das größte Experty für historische Aufführungspraxis kann trotzdem einen schlechten Bach aufführen, und auch einem Musiky, das sich nie über verschiedene Stilistiken Gedanken gemacht hat, kann ein berührender Bach gelingen.

Was macht denn dann einen berührenden Vortrag aus? Darüber mache ich vielleicht ein andermal ein paar Notizen.


  1. Beispielaufnahmen gibt es auf YouTube hier, hier und hier. ↩︎
  2. Zum Beispiel diese Aufnahme von Hilary Hahn. (Womit ich Hilary Hahn natürlich überhaupt keine allgemein-geigerischen Fähigkeiten absprechen möchte, die hat sie zweifellos in großem Maße.) ↩︎
  3. Was zum Geier ist ein Lehry? ↩︎
  4. Natürlich kann heute niemand mehr bis ins Detail rekonstruieren, wie Musik vor 300 Jahren geklungen hat. Es gibt aber Quellen, die zumindest ein paar Hinweise bereithalten, wie etwa die Violinschule von Leopold Mozart, die Klavierschulen von C.P.E. Bach und Couperin oder „Der vollkommene Kapellmeister“ von Mattheson. ↩︎
  5. Geht’s noch unkonkreter? Vermutlich nicht. Aber Fragen der Ästhetik finden meiner Erfahrung nach im Studium und Berufsleben von Orchestermusikys nur marginale Beachtung, und ich behaupte einfach mal frei heraus: ich kenne kaum Kollegys, die auf die Frage, warum sie Musik machen oder warum Musik wichtig ist, in konkreteren Worten antworten könnten. Dieses Defizit zumindest für mich selbst ein bisschen zu beheben, das ist eines meiner Ziele für die nächste Zeit. Wenn ich damit erfolgreich bin, werdet ihr hier davon erfahren. ↩︎