Notizen zu Texten von Marx, Engels, Weber, Reckwitz, Combahee River Collective, Kerner

Marx, Engels, Weber

Eine Kernthese des Manifests der kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels ist, dass die Gesellschaft schon immer in verschiedene Klassen mit konkurrierenden Interessen aufgeteilt war, wobei sich zu den Lebzeiten der Autoren zwei große Klassen herauskristallisiert hatten: die Bourgeoisie und das Proletariat (Marx & Engels, 1890, S. 75). Die Bourgeoisie ist die herrschende Klasse, die das Kapital und die Produktionsmittel besitzt, während das Proletariat aus Mangel an materiellen Besitztümern gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen (Marx & Engels, 1890, S. 78-79).

Weber sieht ein differenzierteres Klassensystem in der Gesellschaft am Werk: er unterscheidet zwischen Besitzklassen, Erwerbsklassen und sozialen Klassen (Weber, 1921, S. 127). Neben den auf ökonomischen Faktoren basierenden Klassen beschreibt Weber als eine weitere Ebene der Spaltung einer Gesellschaft die Stände, die sich auf soziales Ansehen und Arten der Lebensführung beziehen. Stände können, müssen aber nicht auf dem Grund von bestimmten Klassenlagen entstehen (Weber, 1921, S. 130). Die dritte Dimension, in der eine Gesellschaft laut Weber geteilt ist, ist die der Parteien; diese werden im Gegensatz zu Klassen und Ständen bewusst als „Vergesellschaftung“ ins Leben gerufen, um Macht zu erlangen und Entscheidungen in einer organisierten Gesellschaft zu beeinflussen (Weber, 1921, S. 142).

Weber unterscheidet sich von Marx und Engels unter anderem darin, dass er verschiedene Bedingungen für den Zusammenschluss der arbeitenden Klasse ausmacht: „Der Grad, in welchem aus dem ,Massenhandeln‘ der Klassenzugehörigen ein ,Gemeinschaftshandeln‘ und eventuell ,Vergesellschaftungen‘ entstehen, ist an allgemeine Kulturbedingungen, besonders intellektueller Art, und an den Grad der entstandenen Kontraste, wie namentlich an die Durchsichtigkeit des Zusammenhangs zwischen den Gründen und den Folgen der ,Klassenlage‘ gebunden.“ (Weber, 1921, S. 135). Marx und Engels scheinen hier weniger skeptisch und führen als Bedingungen für die Vereinigung des Proletariats lediglich dessen zahlenmäßige Anwachsen und die Verbesserung der Kommunikationsmittel an (Marx & Engels, 1890, S. 81).

Auch ist Marx‘ und Engels‘ Sichtweise historisch linear und stellt eine Theorie über die weitere Entwicklung der Klassengesellschaft auf: der Untergang der Bourgeoisie und der Sieg des Proletariats seien „gleich unvermeidlich“ (Marx & Engels, 1890, S. 84). Webers Text ist grundsätzlich eher beschreibend und erhebt keine Prognose für die Zukunft.

Ein weiterer Unterschied besteht in der Sicht der Autoren auf die Wirtschaft: für Marx und Engels scheint die Entstehung der Bourgeoisie als Klasse von der Marktwirtschaft untrennbar zu sein, und ihr wird zwar die Umstürzung feudaler Verhältnisse zugutegehalten (Marx & Engels, 1890, S. 76-77), aber sie wird auch als ausbeuterisch und krisenanfällig beschrieben (Marx & Engels, 1890, S. 79). Nach Webers Ansicht kommt jedoch der freie Markt gar nicht dazu, seine volle Wirkung zu entfalten, da er von der ständischen Ordnung darin behindert wird (Weber, 1921, S. 140).

Meine erste Diskussionsfrage wäre: Kann Webers Theorie als Erklärung dienen, warum Marx‘ und Engels‘ Vorhersage eines Sieges des Proletariats sich (noch) nicht bewahrheitet hat? Kann es unter Berücksichtigung von Webers Analysen zu einem Sieg des Proletariats kommen oder ist dies unmöglich?

Weder Marx und Engels noch Weber gehen in den vorliegenden Texten auf Ungleichheiten oder Konflikte zwischen den Geschlechtern ein. Daraus ergibt sich meine zweite Diskussionsfrage: Lassen sich feministische Standpunkte in die Analysen der Autoren integrieren, und wenn ja, wie?

Reckwitz

Andreas Reckwitz stellt in seinem Werk „Das Ende der Illusionen“ die These einer Drei-Klassen-Gesellschaft auf, die seit den 1980er Jahren immer stärker zutage tritt: neben der alten Mittelklasse existieren eine neue Unterklasse sowie eine neue Mittelklasse (und eine Oberklasse von sehr geringer Größe) (Reckwitz, 2019, S. 72). Der Klassenbegriff orientiert sich an Bourdieu und bezieht sich nicht allein auf ökonomische Verhältnisse, sondern gleichermaßen auf Kultur und Politik (Reckwitz, 2019, S. 67). Alle Klassen sind zudem in zahlreiche Milieus binnendifferenziert (Reckwitz, 2019, S. 122-123).

Geprägt wird die spätmoderne Gesellschaft in erster Linie von der neuen Mittelklasse, die sich durch ein hohes Maß an kulturellem Kapital (v.a. Bildung), urbane Lebensräume und hohe Mobilität auszeichnet. Selbstentfaltung und Lebensqualität gelten als hohe Werte (Reckwitz, 2019, S. 90-93). Die alte Mittelklasse dagegen verliert kulturell und räumlich an Einfluss. Sie ist von mittlerem Bildungsniveau, ländlichem oder kleinstädtischem Lebensraum und geringer Mobilität gekennzeichnet. Arbeit und Disziplin, traditionelle Familienformen und lokale Verwurzelung werden als wertvoll betrachtet (Reckwitz, 2019, S. 97-99). Die neue Unterklasse oder prekäre Klasse wird von unsicheren Lebensverhältnissen bestimmt. Vermögen, Bildungsabschlüsse sind niedrig oder nicht vorhanden. Die Wertvorstellungen sind teilweise denen der alten Mittelklasse ähnlich, jedoch wird eine gewisse Stabilität in der Lebensführung, die oft hart erkämpft werden muss, bereits als Erfolg gewertet (Reckwitz, 2019, S. 102-104).

Reckwitz sieht den von Ulrich Beck herausgestellten „Fahrstuhleffekt“ als überholt an und schlägt stattdessen den „Paternostereffekt“ zur Beschreibung heutiger Gesellschaftsformen vor. Die Gesellschaft befindet sich nicht mehr insgesamt im Aufstieg, sondern Abstieg und Aufstieg können innerhalb unterschiedlicher Gruppen jederzeit und gegengleich geschehen (Reckwitz, 2019, S. 72). Was Beck mit dem „Fahrstuhleffekt“ beschrieb, war die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ der industriellen Moderne in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten (Reckwitz, 2019, S. 73), die jedoch nicht mehr existiert: durch Veränderungen in der Industrie, der Bildung und kultureller Werte hat sich die Drei-Klassen-Gesellschaft der Spätmoderne herausgebildet (Reckwitz, 2019, S. 77).

In mancher Hinsicht könnte Reckwitz‘ Theorie dennoch als eine Fortführung von Becks „Jenseits von Stand und Klasse?“ von 1983 verstanden werden. Manche Aspekte, die Beck noch der Gesellschaft als Ganzem zuschreibt, tauchen bei Reckwitz als Merkmale der neuen Mittelklasse wieder auf: etwa die erhöhte Mobilität mit Fokussierung auf urbane Räume (Reckwitz, 2019, S. 91; Beck, 1983, S. 224), die Singularisierung oder Individualisierung der Lebensform (Reckwitz, 2019, S. 93; Beck, 1983, S. 225) und die Leistungs- und Erfolgsorientierung (Reckwitz, 2019, S. 94; Beck, 1983, S. 235). Die von Beck beschriebenen Gruppenbildungen, die sich weniger an Klassenlagen und mehr an „askriptiven Merkmalen“ oder Umweltbedingungen orientieren (Beck, 1983, S. 237), existieren laut Reckwitz im Querschnitt und sekundär zu den Klassenlagen (Reckwitz, 2019, S. 110).

Frage 1: Auf welche Art kann ein Sozialstaat der Drei-Klassen-Gesellschaft am besten gerecht werden? Wäre z.B. durch Umverteilungsmaßnahmen oder Änderungen im Bildungssystem eine „Mittelstandsgesellschaft“ im Sinne einer gerechteren Verteilung von ökonomischen Ressourcen denkbar? (In diesem Zusammenhang würde mich auch interessieren, was Reckwitz mit einem „einbettenden Liberalismus“ (Reckwitz, 2019, S. 133) meint.)

Frage 2: Wie würde Reckwitz aktuelle Bewegungen wie „Fridays for Future“, „Black Lives Matter“ oder auch die „Querdenker“ einstufen? Entstammen diese bestimmten Klassen oder Milieus, und wenn ja, welchen?

Combahee River Collective, Kerner

Das Combahee River Collective widmet sich in seinem „Black Feminist Statement“ einer Theorie und Politik des Schwarzen Feminismus, die Wichtigkeit des Aktivismus wird dabei stets betont (C. R. Collective, 1977, S. 63). Schwarze Frauen in den USA sind als zweifach unterdrückt zu betrachten – rassistisch und sexuell – weshalb sie sich weder in den Emanzipationsbewegungen weißer Frauen noch in den Bürgerrechtsbewegungen schwarzer Männer wiederfinden können (C. R. Collective, 1977, S. 64). Weitere zu beachtende Formen der Unterdrückung sind Homophobie und problematische Auswirkungen des Kapitalismus (C. R. Collective, 1977, S. 65).

Ein Kernpunkt, auf dem der Aktivismus des Combahee River Collectives beruht, ist die Identitätspolitik: die Autorinnen sind der Ansicht, dass Politik zu einer bestimmten Thematik am besten von jenen Personen gemacht wird, die unmittelbar davon betroffen sind (C. R. Collective, 1977, S. 65).

Die Position schwarzer Frauen wird als zentral für die praktische Überwindung von Ungleichheit angesehen, da sie sich in allen Systemen der Ungleichheit auf niederster Stufe befinden (C. R. Collective, 1977, S. 67). Zu ihrer Befreiung müssten nicht nur Rassismus und Sexismus, sondern auch die ökonomische Abhängigkeit überwunden werden (C. R. Collective, 1977, S. 68).

Ina Kerner weist in ihrem Überblick zu verschiedenen Varianten des Sexismus auf die enge Verknüpfung der Begriffe Sexismus und Rassismus hin: zum einen in der Entstehung des Begriffs Sexismus, zum anderen aufgrund von Analogien, die immer wieder gebildet wurden und die Widerspruch vonseiten schwarzer Frauen auslösten (Kerner, 2014, S. 3). Laut Kimberle Crenshaw, die den Begriff der Intersektionalität einführte, müsste rassistische und sexistische Diskriminierung im juristischen Kontext nicht nach vorgegebenen Rastern beurteilt werden, die sich in der Regel an Erfahrungen weißer Frauen oder schwarzer Männer orientierten, sondern der Blick müsse geschärft werden für Fälle, in denen sich verschiedene Formen von Diskriminierung überlagern (Kerner, 2014, S. 4), sowie für die Heterogenität vermeintlich homogener Gruppen wie Männern und Frauen (Kerner, 2014, S. 5). Wichtig wird also der jeweilige Kontext eines Falles, der vielschichtig sein kann.

Kerner beschreibt Intersektionen von Rassismus und Sexismus in drei Dimensionen: einer epistemischen, die sich auf Wissensformen wie Zuschreibungen, Vorurteile und Stereotype bezieht (Kerner, 2014, S. 5), einer institutionellen, die etwa ineinandergreifende Arbeits- oder Familienverhältnisse beschreibt (Kerner, 2014, S. 6), sowie einer personalen Dimension, die die subjektiven Aspekte Betroffener betont (Kerner, 2014, S. 5) und insbesondere auf die enge Verschränkung von geschlechtlichen und ethnischen Identitätsbildungen verweist (Kerner, 2014, S. 6).

Schließlich spricht Kerner auch das Thema Heteronormativität an: Vertreter*innen der Queer Theory kritisieren geschlechtliche Kategorisierung als solche und versuchen, diese zu überwinden (Kerner, 2014, S. 7).

Frage 1: Könnte oder sollte im Lichte postkolonialer Überlegungen eine weitere Dimension der Diskriminierung – etwa „Nord/Süd“, „unabhängig/abhängig“ oder „modern/rückständig“ – hinzugefügt und untersucht werden? Anders ausgedrückt, ist eine schwarze Frau aus dem Niger nicht noch schlechter gestellt als eine schwarze US-Amerikanerin? Oder ist diese Thematik bereits in der Kapitalismuskritik des Combahee River Collective inbegriffen?

Frage 2: Muss die gesellschaftliche Loslösung von geschlechtlichen und rassistischen Kategorisierungen immer über einen „Zwischenschritt“ erfolgen, z.B. den Feminismus oder Bewegungen wie aktuell „Black Lives Matter“, die Ungleichheiten zwischen praktisch bestehenden Kategorisierungen zu überwinden suchen, bevor die Kategorien an sich überwunden werden können?

Literaturverzeichnis

Beck, U. (1983): Jenseits von Stand und Klasse? In: H. Solga, J. Powell, P.A. Berger (Hrsg.) (2009), Soziale Ungleichheit. Klassische Texte zur Sozialstrukturanalyse (S.221-237). Frankfurt/New York: Campus Verlag.

The Combahee River Collective (1977): A Black Feminist Statement. In: L. Nicholson (Hrsg.) (1997), The Second Wave. A Reader in Feminist Theory (S.63-70). New York/London: Routledge.

Kerner, Ina (2014): Varianten des Sexismus. In: APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 8/2014 (S. 41-46).

Marx, K. & Engels, F. (im Original 1890). Manifest der kommunistischen Partei. In H. Solga, J. Powell, P.A. Berger (Hrsg.) (2009), Soziale Ungleichheit. Klassische Texte zur Sozialstrukturanalyse (S. 75-84). Frankfurt/New York: Campus Verlag.

Reckwitz, A. (2019): Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin:
Suhrkamp.Weber, M. (im Original 1921). Stände und Klassen. In H. Solga, J. Powell, P.A. Berger (Hrsg.) (2009), Soziale Ungleichheit. Klassische Texte zur Sozialstrukturanalyse (S. 127-131). Frankfurt/New York: Campus Verlag.

Weber, M. (im Original 1921). Machtverteilung innerhalb der Gemeinschaft. Klassen, Stände, Parteien. In H. Solga, J. Powell, P.A. Berger (Hrsg.) (2009), Soziale Ungleichheit. Klassische Texte zur Sozialstrukturanalyse (S. 133-142). Frankfurt/New York: Campus Verlag.