Die Menschheit als Zweck an sich selbst
Wie stichhaltig und praxisrelevant ist Kants Konzept der Menschenwürde in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten?
1. Einleitung
Menschenrechte spielen eine essenzielle Rolle in internationalen politischen Diskursen der heutigen Zeit. Zu ihrer Einhaltung verpflichten sich alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen[1], ihre Verletzung wird als Rechtfertigung für Eingriffe in die staatliche Souveränität angeführt[2], NGOs pochen weltweit auf ihre Durchsetzung[3]. Den Menschenrechten zugrunde liegt der Begriff der Menschenwürde[4].
Immanuel Kant hat einen entscheidenden Einfluss auf die Diskurse zu diesem Thema ausgeübt[5]; seine Erklärung der Würde als ein absoluter Wert, der allen Menschen zukommt, gilt als herausragendes Beispiel für eine vernunftbasierte Begründung von Menschenwürde und damit auch Menschenrechten[6].
Eine besonders prominente Rolle spielt die Würde des Menschen bei Kant in Form der Zweck-an-sich-selbst-Formel in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS): der Begriff wird hier als ein unverzichtbarer Teil eines moralischen Gesetzes eingeführt.
Die vorliegende Arbeit soll zum einen die Analytik dieser Formel untersuchen: welche Rolle spielt die Menschheitszweckformel innerhalb der drei Formulierungen des moralischen Gesetzes in der GMS? Warum ist sie unverzichtbar für eine vollständige Bestimmung des kategorischen Imperativs?
Zum anderen soll der Blick auf mögliche praktische Implikationen der Formel gelenkt werden. Kants Ethik war immer wieder Vorwürfen ausgesetzt—Hegel etwa hielt sie für „leeren Formalismus“, der nicht fähig wäre, zur tatsächlichen „Bestimmung von besonderen Pflichten“ überzugehen[7]. In diesem Sinne möchte ich die Fragen aufwerfen: Wie stellt sich Kant eine Realisierung des absoluten Wertes des Menschen im menschlichen Handeln vor? Kann er eine Begründung dafür liefern, warum Menschen eine Würde besitzen, und überzeugend darlegen, dass daraus bestimmte Handlungsvorschriften folgen?
Zu diesem Zweck wird nicht nur die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, sondern auch einige Sekundärliteratur herangezogen.
2. Die Menschheit als Zweck an sich selbst
„Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel […]“[8] So lautet das Postulat, das Kant in der GMS aufstellt. Dass der Mensch als Zweck an sich selbst existiert, schreibt ihm einen „absoluten Wert“ zu[9], und der Mensch hat eben dadurch eine Würde—im Gegensatz zu einem Preis, der nur von relativem Wert ist[10]. Ich möchte nun mit der Frage beginnen, wie Kant dies begründet.
- Warum muss überhaupt ein „Zweck an sich selbst“ bestimmt werden?
Zunächst sollte vorausgeschickt werden, dass Kant sich an dieser Stelle noch nicht in der Position befindet, dass er die Existenz oder die Gültigkeit eines allgemeinen moralischen Gesetzes bewiesen hätte[11]. Im vorigen Schritt wurde lediglich eine Formel entwickelt, die das Potential zu einem allgemeinen Gesetz besäße, da sie von allen empirischen Faktoren absieht und allein die Verallgemeinerbarkeit des Gesetzes zur Basis hat: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“[12].
Wenn die Befolgung dieses Gesetzes aber eine Pflicht sein soll, dann muss das Gesetz „(völlig a priori) schon mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt verbunden sein“[13]. Ein Wille muss auf etwas gerichtet sein, er muss ein Ziel oder, nach Kants Formulierung, einen „Zweck“ haben. Zudem muss ein „Bewegungsgrund“ angenommen werden, der den Willen dazu verleitet, sich auf einen Zweck hin auszurichten[14]. Dabei unterscheidet Kant terminologisch zwischen dem Bewegungsgrund, der als ausschließlich auf einen objektiven Zweck ausgerichtet verstanden werden soll, und der „Triebfeder“, die lediglich den subjektiven Grund bezeichnet, einen ebenso subjektiven Zweck zu begehren[15]—etwa der Hunger, der den Grund für das Begehren einer Pizza darstellt.
Um also dem kategorischen Imperativ des moralischen Gesetzes einen Zweck zu verleihen, muss es etwas geben, „dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte“. Dabei kann es sich z.B. nicht um eine Pizza handeln, die mit der Befriedigung eines subjektiven, temporären Appe-tits einen bloß relativen Zweck hat. Selbst die Glückseligkeit taugt nicht zu einem allgemeinen Zweck, da sie für verschiedene Menschen verschiedensten Inhalt haben kann und selbst für ein Individuum oft nicht klar bestimmt werden kann[16]. Und wenn es ein moralisches Gesetz geben soll, dann muss es auch etwas von absolutem Wert geben, denn: „wenn […] aller Wert bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Prinzip angetroffen werden“[17].
Warum nun Kant gerade den Menschen als vernünftiges Wesen als Zweck an sich selbst bezeichnet, wird nicht gleich vollständig begründet. Ein erster Hinweis findet sich in Kants Behauptung, dass jedes vernünftige Wesen sich notwendigerweise sein eigenes Dasein als Zweck an sich selbst vorstellt; eine genauere Erläuterung verschiebt er auf den dritten Abschnitt der GMS[18].
Während bislang also noch nicht begründet ist, warum der Mensch als Zweck an sich selbst zu betrachten ist und eine Würde besitzt, ist doch deutlich geworden, warum die Idee eines Zwecks an sich selbst solche Wichtigkeit für Kant hat: kein Gesetz, das den menschlichen Willen bestimmen soll, ist funktionabel ohne einen Zweck oder ein Ziel. Ein Gesetz, das allgemeine Gültigkeit haben soll, müsste also auch einen Zweck haben, der allgemeine Gültigkeit besitzt und nicht von individuellen Neigungen oder Ansichten abhängig ist. Dieser Zweck müsste also ein Zweck an sich selbst sein.
Das moralische Gesetz ist also nicht vollständig ohne die zweite Formulierung: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“[19].
- Wieso führt Kant die Menschheit als Zweck an sich selbst an?
Warum aber müssen sich nun alle Menschen, sogar alle vernünftigen Wesen, als Zwecke an sich selbst betrachten?
Aus der Universalitätsformel (UF) und der Zweck-an-sich-selbst-Formel (ZF)[20] „folgt“ nach Kant „nun das dritte praktische Prinzip des Willens, als oberste Bedingung der Zusammenstimmung desselben mit der allgemeinen praktischen Vernunft, die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens“[21]. Dem Willen ver-nünftiger Wesen werden also nicht einfach Gesetze von außen vorgegeben, sondern er legt sich diese Gesetze selbst auf, unabhängig selbst von einer Bestimmung durch irgendein Interesse—er agiert autonom[22].
Die drei Arten, den kategorischen Imperativ auszudrücken, sind laut Kant „Formeln eben desselben Gesetzes“, unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet[23]. Unter Einbeziehung der dritten Formel, der Autonomie-Formel (AF), lässt sich Kants Erklärung, warum die Menschenwürde im moralischen Gesetz analytisch enthalten sein muss, wie folgt nachvollziehen:
Angenommen, vernünftige Wesen würden ein Reich erschaffen, das sie durch eine allgemeine Gesetzgebung, die allgemeingültigen Zwecken folgt, miteinander verbindet, so würde ein „Reich der Zwecke“ entstehen[24]. In diesem Reich bestimmt sich der Begriff der Würde als Gegensatz zum Preis: „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“[25]. Dinge, die einen Preis haben, besitzen nach Kant nur einen relativen Wert, im Gegensatz zu solchen, die Würde haben und damit einen absoluten, „inneren“ Wert besitzen. Welche Dinge dies sind, die Würde und inneren Wert besitzen, wird festgelegt durch die Gesetzgebung—die als solche „eben darum eine Würde, d.i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben“ muss[26]. Die Gesetzgebung entspringt der Rationalität des Menschen, weswegen der Mensch als Vernunftwesen Würde besitzt.
Christine Korsgaard beleuchtet dieses Argument noch etwas genauer[27]: Durch ihre Rationalität besitzen Menschen die Fähigkeit, Werte zu bestimmen, Zwecke zu setzen. Indem wir aufgrund von rationaler Überlegung Zwecke setzen, nehmen wir an, dass unsere Entscheidung diese Zwecke als gut qualifiziert: „what makes the object of your rational choice good is that it is the object of a rational choice“[28]. Wenn wir uns durch unsere Vernunft als fähig betrachten, wertvolle Zwecke zu bestimmen, müssen wir jedem anderen vernunftbegabten Wesen ebenfalls diese Fähigkeit zuschreiben—die durch verschiedene Vernunftwesen gesetzten Zwecke müssen dann übereinstimmen, da wir ja keine der empirischen Faktoren einfließen lassen, die uns von unseren Mitmenschen unterscheiden, und das Gute rein rational bestimmt wird. „Thus, regressing upon the conditions, we find that the unconditioned condition of the goodness of anything is rational nature, or the power of rational choice. To play this role, however, rational nature must itself be something of unconditional value—an end in itself.“[29]
Noch einmal anders formuliert: ein vernünftiges Wesen kann sich keine wertvollen Zwecke für die eigenen Handlungen setzen, ohne die Fähigkeit, sich Zwecke zu setzen, als unbedingt wertvoll zu betrachten[30]. Diese Fähigkeit aber, sich objektive Zwecke zu setzen und sich einer selbstauferlegten Gesetzgebung zu unterwerfen, besteht nach Kant unter der Voraussetzung der bloßen Vernunft, die frei von Interessen ist[31]. Die Gesetzgebung entspringt also der Freiheit, im Sinne von Autonomie, der vernünftigen Wesen: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“[32].
Nicht vergessen sollte man dabei allerdings, dass Kants Begründung sich bis zu diesem Punkt auf einer Ebene vollzieht, auf der die Notwendigkeit, Wahrheit und Möglichkeit eines synthetisch-praktischen Gesetzes—also die Gültigkeit des kategorischen Imperativs—noch nicht zur Debatte stand. Der erste und zweite Abschnitt der GMS sind, wie Kant betont, „bloß analytisch“—es wurde lediglich aus dem Begriff der Moralität abgeleitet, „daß eine Autonomie des Willens demselben unvermeidlicherweise anhänge oder vielmehr zum Grunde liege“[33]. Wenn es ein allgemeines moralisches Gesetz geben soll, dann müsste es auf eine Weise bestimmt werden, die von allen empirischen Einflüssen absieht, um die nötige Allgemeinheit zu sichern. Ein derartiges Gesetz müsste darin bestehen, dass Handlungsmaximen jederzeit verallgemeinerbar gedacht werden können, und der Zweck dieses Gesetzes müsste in der Behandlung der Menschheit als Zweck an sich selbst bestehen, denn Menschen als vernunftfähige Wesen müssten sich notwendigerweise als autonom und als Zwecke an sich selbst betrachten.
Bezüglich der Frage, warum Menschen Zwecke an sich selbst sind, kann also bislang nur die Antwort gegeben werden: unter der Bedingung der Gültigkeit eines kategorischen Imperativs können sich vernünftige Wesen nicht anders denn als Zwecke an sich selbst betrachten. Ob sie diese Eigenschaft und die damit einhergehende Würde tatsächlich besitzen, kann nur in Zusammenhang mit der Frage, ob „der kategorische Imperativ und mit ihm die Autonomie des Willens wahr, und als ein Prinzip a priori schlechterdings notwendig ist“[34], erläutert werden. Die Frage, ob ein Gesetz mit all diesen Eigenschaften tatsächlich besteht, möchte Kant im dritten Abschnitt der GMS beantworten.
- Ist die Menschheit tatsächlich ein Zweck an sich selbst?
Um zu überprüfen, ob die Menschheit tatsächlich frei und damit Zweck an sich selbst ist, eine Würde besitzt und niemals bloß als Mittel benutzt werden darf, muss also das gesamte moralische Gesetz auf seine Gültigkeit hin überprüft werden.
Auf dem Wege dorthin sieht Kant sich zunächst in „eine Art von Zirkel“ geraten:
Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben.[35]
Man könne aber Freiheit und Moralität nicht wechselseitig miteinander begründen, da beide im Grunde Autonomie bedeuteten[36].
Den Zirkel meint Kant jedoch rasch beheben zu können, indem eine „Unterscheidung einer Sinnenwelt von der Verstandeswelt“ getroffen wird, an denen der Mensch jeweils teilhat, da er sich „in Absicht auf die bloße Wahrnehmung und Empfänglichkeit der Empfindungen zur Sinnenwelt, in Ansehung dessen aber, was in ihm reine Tätigkeit sein mag (dessen, was […] unmittelbar zum Bewußtsein gelangt), sich zur intellektuellen Welt zählen muß“[37]. Das vernünftige Wesen hat also „zwei Standpunkte, daraus es sich selbst betrachten […] kann“, wobei die Teilhabe an der intellektuellen oder Verstandeswelt bewirkt, dass der Mensch sich als frei betrachten muss[38]. Warum ist dies so?
Für Kant ist die Verstandeswelt der Sinnenwelt vorgeordnet: sie enthält den Grund der Sinnenwelt und den Grund „der Gesetze derselben“, weshalb das vernünftige Wesen den Vorrang seiner eigenen Vernunft vor seinem sinnlichen Dasein erkennt und sich den Gesetzen der ersteren unterwirft[39]. Das vernünftige Wesen will als solches die moralische Gesetzgebung: „Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt und wird nur sofern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet“[40]. Das moralische Gesetz erhält somit bindende Kraft, indem die Menschen über ihr eigenes Dasein Klarheit gewinnen und erkennen, dass sie das moralische Gesetz von Natur aus wollen. Wer das moralische Gesetz will, will zwangsweise auch die ZF—dies wurde analytisch dargelegt. Somit wäre erklärt, warum die Menschheit als Zweck an sich selbst gelten muss.
3. Probleme
Diese Begründung ist jedoch mit einigen Problemen verbunden. An verschiedenen Stellen der Argumentation finden sich Voraussetzungen, die einer Überprüfung bedürfen. Diese werde ich im Folgenden nachzuvollziehen versuchen.
- Kants ontoethischer Grundsatz
Die These vom Vorrang der Verstandeswelt vor der Sinnenwelt, die für die Konzeption des kategorischen Imperativs als bindendes Gesetz essenziell ist, beruht auf einer Annahme, die Schönecker und Wood „Kants ontoethischen Grundsatz“[41] nennen: „Es führt kein Weg daran vorbei: Kant begründet die Gültigkeit des KI mit der Superiorität des ontologischen Status der Verstandeswelt“[42]. Dieser Grundsatz scheint nur Sinn zu ergeben, wenn man Kants Unterscheidung von Dingen an sich und deren Erscheinungen[43] akzeptiert: Dinge an sich liegen den Erscheinungen zugrunde und sind ihnen ontologisch übergeordnet. Der Mensch in seiner physischen Ausdehnung, mit seinen Bedürfnissen, Gefühlen und Trieben ist nur Erscheinung, der Mensch der Verstandeswelt dagegen ist Ding an sich[44]; und dies ist laut Kant „das eigentliche Selbst“ des Menschen[45].
Selbst wenn man jedoch diesen ontoethischen Grundsatz akzeptieren möchte, so ergeben sich dennoch Schwierigkeiten, wenn er zur Begründung der Gültigkeit des moralischen Gesetzes herangezogen wird. Die Verstandeswelt enthält nach Kant auch „den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben“. Laut Schönecker und Wood folgt jedoch aus der Annahme, dass jeder Erscheinung ein Ding an sich zugrunde liegt, noch nicht automatisch „die erkenntnistheoretische Hauptthese Kants […], daß das transzendental-logische Ich der Grund der Gesetze der Natur ist“—und selbst wenn dies gesichert wäre, wäre noch nicht klar, wie sich dies auf den Willen der Menschen auswirken würde[46].
Zudem versteht Kant nach Ansicht von Schönecker und Wood sein eigenes metaphysisches System falsch, wenn er Neigungen ein Dasein als Ding an sich abspricht—auch sie müssten konsequenterweise „wie andere Entitäten auch zugleich als Ding an sich und als Erscheinung“ betrachtet werden. Wenn aber letzteres der Fall ist, sind Neigungen der Vernunft nicht mehr zwangsläufig untergeordnet und die Deduktion der Gültigkeit des moralischen Prinzips funktioniert nicht mehr[47].
- Kann die Menschenwürde unabhängig von der Freiheit der Vernunftwesen angenommen werden?
Wenn der ontoethische Grundsatz bzw. dessen Einfluss auf den menschlichen Willen nicht gut genug begründet werden kann, um die Freiheit der Vernunftwesen und die Realität des moralischen Gesetzes zu beweisen, bleibt Kant nach der Interpretation von Schönecker und Wood zu diesem Zwecke nur noch die Idee der Menschheit als Zweck an sich selbst. Die Antwort auf die Frage: „wieso […] soll der Mensch sein sinnlich motiviertes Wollen den Einschränkungen seines rein vernünftigen Wollens unterwerfen? […] muß lauten: weil der Mensch als vernünftiges Wesen Zweck an sich und wertvoll ist“[48]. Das moralische Gesetz wäre also zu retten, wenn nicht die Menschenwürde aus der Autonomie, sondern die Gültigkeit des moralischen Gesetzes aus der Menschenwürde folgen könnte.
In 2.2. wurde festgehalten, dass Kant die Würde des Menschen nur unter der Bedingung der Gültigkeit des moralischen Gesetzes begründet hat: wenn Menschen sich als autonome, gesetzgebende vernünftige Wesen betrachten können, dann sind sie Zwecke an sich selbst und besitzen inneren, absoluten Wert. Da diese Argumentationsweise im vorigen Abschnitt aber Zweifeln unterworfen wurde, scheint nun auch der Wert der Menschheit innerhalb des kantischen Systems nicht mehr gesichert.
Oder kann die Menschheit möglicherweise auch unabhängig von der Realität des moralischen Gesetzes als Zweck an sich selbst betrachtet werden? Auf den ersten Blick scheint es beispielsweise, als wäre Korsgaards Kant-Interpretation, nach der das Zwecke-setzende vernünftige Wesen aufgrund dieser an sich wertvollen Eigenschaft als wertvoll betrachtet werden muss, unabhängig von der Bedingung der Freiheit der Menschen. Kann ihre Lesart also möglicherweise die Würde des Menschen überzeugend verteidigen?
Andrea Sangiovanni ist nicht dieser Ansicht. Er kritisiert den Schluss von der Annahme, dass Dinge nur dadurch Wert erhalten können, dass wir als rationale Wesen sie als wertvoll betrachten, auf die Folgerung, dass das Ausüben unserer wertenden Tätigkeit die von uns gewählten Zwecke tatsächlich wertvoll macht. Man könne zwar annehmen, dass Menschen gute Gründe dafür haben müssen, die von ihnen verfolgten Zwecke als wertvoll zu betrachten. Auch sei es nicht sinnvoll, die Existenz von Werten unabhängig von der Existenz eines oder einer Wertenden anzunehmen: „Values only come into the world when valuers do“[49]. Korsgaard könne daraus allerdings nicht schlussfolgern, dass Dinge automatisch Wert besitzen, weil wir sie wertschätzen—denn die Aussage „things have value because we reflectively endorse them“ könne zwei Dinge bedeuten. Es sei etwas anderes, zu behaupten, dass der Akt des Wertens darin besteht, rational-reflektiert Zwecke zu unterstützen, und zu behaupten, dass der Akt des rational-reflektierten Zwecke-Setzens diese Zwecke tatsächlich als wertvoll klassifiziert.[50] Das hierzu angeführte Beispiel hilft, Sangiovannis Argument besser zu verstehen:
When I yell, “You should have picked up the children!” I express anger as well as my reflective endorsement of a set of parental norms, but I do not claim (or presuppose) that either my anger or my reflective endorsement makes it the case that you ought to pick up the children.[51]
Noch einmal zusammengefasst: die Tatsache, dass Werte ohne die wertende Perspektive eines Vernunftwesens vermutlich nicht existieren, bedeutet nicht zwingend, dass jede Wertung eines Vernunftwesens der als gut bewerteten Entität tatsächlich einen Wert verleiht.
Wenn dies so ist, kann allerdings nicht mehr gefolgert werden, dass unsere Wertungen Quellen von Werten sind; und demnach kann auch nicht mehr angenommen werden, dass diese Fähigkeit zu werten selbst einen unbedingten Wert darstellt. „In a nutshell: From ‘valuing consists in an expression of reflective endorsement,’ we cannot get: ‘therefore, we must presuppose that reflective endorsement (let alone the capacity for such reflective endorsement) is valuable’“[52].
Das Argument scheint also in dieser Form nicht standzuhalten. Es könnte wohl funktionieren, wenn das „reflective endorsement“[53] der Zwecke in einem strikten kantischen Sinne gedacht würde. Wenn ich meine:n Ehepartner:in berechtigterweise dafür rügen möchte, dass er oder sie die Kinder nicht abgeholt hat, dann müsste ich die Pflicht, die Kinder abzuholen, aus dem moralischen Gesetz abgeleitet haben. Ich müsste von allen empirischen Gründen, selbst von meiner persönlichen Zuneigung von den Kindern abstrahiert und meine Handlungsmaxime auf ihre Verallgemeinerbarkeit hin überprüft haben. Ich müsste Acht darauf haben, dass in meiner Aussage nicht impliziert ist, dass irgendjemand allein als Mittel gebraucht wird. Und würde nun mein:e Ehepartner:in all diese Regeln gleichermaßen befolgen, müsste sie oder er zum gleichen Schluss kommen wie ich, nämlich, dass es falsch war, die Kinder nicht abzuholen. Jedes Vernunftwesen müsste zu diesem Schluss kommen. Allerdings war das Ziel dieses Abschnitts, die Menschenwürde unabhängig vom moralischen Gesetz zu begründen, damit sie wiederum das moralische Gesetz begründen kann. Für diese Zwecke scheint Korsgaards Argument demnach nicht geeignet.
- Zusammenfassung: Was bedeuten diese Probleme für die Menschenwürde?
Für Schönecker und Wood stellt es ein gravierendes Problem dar, dass Kant nicht auf einen soliden Wertbegriff zurückgreifen kann—er habe nie eine Werttheorie entwickelt[54]. Ihren Kommentar zur GMS schließen sie mit einer scharfen Kritik: Die Frage „Warum moralisch sein?“ wird von Kant mit dem ontoethischen Grundsatz begründet, wobei sich aber
an diese Antwort die Ursprungsfrage in veränderter Form sofort wieder anschließt—wieso nämlich soll der Mensch sein sinnlich motiviertes Wollen den Einschränkungen seines rein vernünftig motivierten Wollens unterwerfen? Die Antwort darauf muß lauten: weil der Mensch als vernünftiges Wesen Zweck an sich und wertvoll ist. Kant gibt eigentlich diese Antwort. Aber anstatt zu klären, was es heißt, daß etwas wertvoll ist und wie Werte erkannt werden, verharrt er in einem ihm unangemessenen und philosophisch unplausiblen Ontologismus.[55]
Die Menschenwürde, verstanden als absoluter Wert, den ein Mensch besitzt, sollte nach Meinung von Schönecker und Wood also unabhängig vom moralischen Gesetz begründet werden, um dann wiederum das moralische Gesetz zu validieren. Eine derartige Herangehensweise scheint jedoch bei Kant nicht zu finden zu sein.
4. Fazit und Ausblick
Nachdem nun deutlich geworden sein sollte, dass die Menschenwürde nicht auf zufriedenstellende Weise mit Kant begründet werden kann, bliebe abschließend noch die Frage: wozu überhaupt eine Menschenwürde? Warum brauchen wir dieses Konzept?
Die Menschenwürde spielt als Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte[56]—so wenig der Begriff dort hergeleitet oder auch nur ausführlicher definiert wird—eine wichtige Rolle nicht nur in den internationalen Beziehungen, sondern auch als Begründung für die Verurteilung von Verbrechen auf lokaler Ebene. Ohne Rückgriff auf die Idee der Menschenwürde wäre es nicht einfach, eine Erklärung dafür zu geben, warum die Sklaverei falsch ist oder warum Geflüchtete nicht in provisorischen Zeltlagern auf den griechischen Inseln festgehalten werden sollten.
Ungeachtet dessen, dass die Umsetzung der Menschenrechte bei weitem nicht überall auf der Welt in gleichem Maße gewährleistet ist, liegt eine gewisse Gefahr darin, ein unbegründetes Konzept als Basis für eine internationale Erklärung von derartiger Tragweite und hohem Anspruch festzusetzen. Die Vereinten Nationen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte entstanden in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, in der der Schrecken des Krieges vielen Bürger:innen der westlichen Welt noch in den Knochen steckte[57]. Auch heute noch scheint der Begriff weltweit große Zustimmung zu finden: er fand etwa Eingang in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union[58], ebenso wie in die Banjul-Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker[59], die 1981 von 54 afrikanischen Staaten unterzeichnet wurde[60]. „Die Frau ist dem Mann in ihrer menschlichen Würde gleichgestellt“, hält auch die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam fest; und die ASEAN-Erklärung der Menschenrechte, unterzeichnet von zehn ostasiatischen Staaten, sieht alle Menschen als „frei und gleich an Würde und Rechten geboren“[61]. Schon der Vergleich dieser Dokumente und die Betrachtung des Würdebegriffs im Zusammenhang mit den anderen dort festgesetzten Prinzipien zeigt, dass es doch eine gewisse Bandbreite an Rechten und Pflichten gibt, die unter Rückgriff auf die Würde der Menschen festgesetzt werden könnten.
Abgesehen davon, dass ein unbegründeter Würdebegriff möglicherweise zu viele verschiedene Deutungen und Ableitungen zulässt, besteht wohl auch ein gewisses Risiko, dass er ganz abgelehnt werden könnte oder nur einem Teil der Menschen zugesprochen wird. Wenn auch der Holocaust oder das indische Kastensystem nicht gerade damit begründet wurden oder dadurch entstanden, dass der Begriff der Menschenwürde nicht gut genug erklärt gewesen wäre, so kann es doch für die Verurteilung derartiger Taten und Weltanschauungen nur zuträglich sein, genau angeben zu können, warum sie als Missachtung einer angeborenen Würde aller Menschen zu verurteilen sind.
Angesichts der Probleme, die eine Begründung der Menschenwürde bereitet, könnte sich allerdings auch die Möglichkeit anbieten, andere Wege zu suchen, wie Regeln für den moralisch richtigen Umgang der Menschen miteinander gefunden werden können. So plädiert beispielsweise Andrea Sangiovanni dafür, den Begriff der Würde ganz fallen zu lassen und sich stattdessen eher auf die Vermeidung von Grausamkeit als Richtlinie für menschliches Handeln konzentrieren[62].
Und wie steht es nun mit Kant? Müssen wir seine Ideen angesichts der mit ihnen einhergehenden Probleme nun komplett verwerfen?
Die Attraktivität von Kants Moralphilosophie liegt sicherlich darin, dass sein Gesetz den Anspruch vertritt, auf reiner Rationalität zu beruhen. Da Empirie keinerlei Eingang in die Begründung des Gesetzes findet, sollten Faktoren ausgeschlossen sein, die beispielsweise kulturell bedingt sind. Unter der Annahme, dass Chines:innen wie Deutsche wie Südafrikaner:innen Vernunftwesen sind, sollten sie alle die Würde ihrer Mitmenschen sowie ihrer selbst erkennen können und einander immerzu als Zweck an sich selbst behandeln. Insofern würde sich ein funktionierendes Moralgesetz nach kantischem Vorbild durchaus als angemessene Grundlage für ein System von Menschenrechten anbieten, auf das sich Menschen in der ganzen Welt berufen können und das eine gemeinsame rechtliche Grundlage für internationale Beziehungen schafft. Es erscheint als kein schlechtes Ziel, durch eine Überprüfung und Verfeinerung von Kants Ideen, oder auch auf ganz anderen Wegen, nach einer Moralphilosophie zu suchen, die diesen Ansprüchen genügt.
[1] Fremuth, Menschenrechte, 202.
[2] Forst, Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse, 57.
[3] Bundeszentrale für politische Bildung, „Menschenrechtsorganisationen“.
[4] Fremuth, Menschenrechte, 202.
[5] Kato und Schönrich, „Introduction“, 1.
[6] Fremuth, Menschenrechte, 63.
[7] Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 252.
[8] Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 428.
[9] Kant, 428.
[10] Kant, 435.
[11] Kant, 425.
[12] Kant, 421.
[13] Kant, 426.
[14] Kant, 427.
[15] Kant, 427.
[16] Kant, 417–19.
[17] Kant, 428.
[18] Kant, 429.
[19] Kant, 429.
[20] In der Terminologie bezüglich der Formeln folge ich Schönecker und Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, 126.
[21] Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 431.
[22] Kant, 432–33.
[23] Kant, 436.
[24] Kant, 433.
[25] Kant, 434.
[26] Kant, 436.
[27] Korsgaard, „Kant’s Formula of Humanity“, 122–24.
[28] Korsgaard, 122.
[29] Korsgaard, 123.
[30] Sangiovanni, Humanity Without Dignity, 38.
[31] Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 427.
[32] Kant, 436.
[33] Kant, 445.
[34] Kant, 445.
[35] Kant, 450.
[36] Kant, 450.
[37] Kant, 451.
[38] Kant, 452.
[39] Kant, 453–54.
[40] Kant, 455.
[41] Schönecker und Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, 199.
[42] Schönecker und Wood, 201.
[43] Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 88.
[44] Schönecker und Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, 201.
[45] Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 457.
[46] Schönecker und Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, 205.
[47] Schönecker und Wood, 206.
[48] Schönecker und Wood, 207.
[49] Sangiovanni, Humanity Without Dignity, 39.
[50] Sangiovanni, 40.
[51] Sangiovanni, 40–41.
[52] Sangiovanni, 41.
[53] Sangiovanni, 40.
[54] Schönecker und Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, 147.
[55] Schönecker und Wood, 207.
[56] Fremuth, Menschenrechte, 202.
[57] Fremuth, 56.
[58] Fremuth, 591.
[59] Fremuth, 629.
[60] Fremuth, 640.
[61] Fremuth, 666–67.
[62] Sangiovanni, Humanity Without Dignity, 13–14.
Literaturverzeichnis
Bundeszentrale für politische Bildung. „Menschenrechtsorganisationen“. Zugegriffen 2. Oktober 2021. https://www.bpb.de/internationales/weltweit/menschenrechte/38651/menschenrechtsorganisationen.
Forst, Rainer. Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse. Perspektiven einer kritischen Theorie der Politik. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1962. Berlin: Suhrkamp, 2011.
Fremuth, Michael Lysander. Menschenrechte: Grundlagen und Dokumente. Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. Schriftenreihe, Band 10511. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2019.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Herausgegeben von Eva Moldenhauer. 15. Auflage. Werke 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2017.
Kant, Immanuel. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Herausgegeben von Dieter Schönecker und Bernd Kraft. Philosophische Bibliothek 519. Hamburg: Meiner, 1999.
Kato, Yasushi, und Gerhard Schönrich. „Introduction“. In Kant’s Concept of Dignity, herausgegeben von Yasushi Kato und Gerhard Schönrich, 1–9. Berlin: De Gruyter, 2020.
Korsgaard, Christine M. „Kant’s Formula of Humanity“. In Creating the Kingdom of Ends, 106–31. Cambridge University Press, 1996. https://doi.org/10.1017/CBO9781139174503.
Sangiovanni, Andrea. Humanity Without Dignity. Moral Equality, Respect, and Human Rights. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 2017.
Schönecker, Dieter, und Allen William Wood. Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Ein einführender Kommentar. 4. durchgesehene und Bibliographisch aktualisierte Auflage. UTB Philosophie 2276. Paderborn: F. Schöningh, 2011.