Danke an Anna und Lucas fürs Korrekturlesen!
Nach Wahrheit suchen oder Briefmarken sammeln?
Die Relevanz von Leo Strauss‘ Kritik an Max Webers wissenschaftstheoretischer Position für die Sozialwissenschaften
- Einleitung
Leo Strauss haftet heute gemeinhin der Ruf eines konservativen Theoretikers an. Dies mag in erster Linie daran liegen, dass eine Gruppe neokonservativer, als „Straussianer“ etikettierter politischer Akteure eine wichtige Rolle bei der Invasion des Irak durch die USA im Jahr 2001 gespielt hat (Zuckert & Zuckert, 2014, S. 311)[1]. In der Diskussion um die Rolle von Werten in den Sozialwissenschaften scheint Strauss allerdings eine eigentümliche Position einzunehmen.
Wollte man eine Einteilung der Wissenschaftler:innen, die sich zu dieser Thematik geäußert haben, in eine konservative und eine kritische Fraktion vornehmen, so würden sich in ersterer wohl Namen wie Max Weber und Karl Popper, in zweiterer eher Theoretiker:innen der Frankfurter Schule und des Feminismus finden. Zwar lassen sich bei Strauss wohl keine Anzeichen für revolutionäre oder feministische Ansichten erkennen, jedoch scheint er auch nicht in die Reihen der Positivist:innen wie Popper oder Noretta Koertge zu passen. Seine Kritik an Max Weber in seinem vielleicht bekanntesten Werk Natural Right and History lässt kaum Zweifel daran bestehen, dass er die Werturteilsfreiheit der Sozialwissenschaften weder für erstrebenswert noch für durchführbar hielt (Strauss, 1963, S. 441–442), und der Aufsatz „What Is Political Philosophy?“ schießt scharf gegen den Positivismus der damaligen Zeit (Strauss, 1957, S. 349–355).
Ein zentraler Vorwurf, den Strauss gegen Max Weber und die von dessen Wissenschaftstheorie beeinflusste nachfolgende Generation von Wissenschaftler:innen richtet, ist der des Werterelativismus bzw. Nihilismus (Strauss, 1963, S. 425, S. 431). Dadurch, dass sich die Wissenschaft jeglicher Werturteile enthalten soll, müssen alle menschlichen Ziele, die als Zwecke an sich selbst verfolgt werden, als gleichwertig behandelt werden—dies bedeutet, dass auch die Entscheidung, Wissenschaft zu betreiben, aus Willkür und nicht aus soliden Gründen getroffen wird. Dem Suchen nach letzten Wahrheiten wohnt nicht mehr Würde inne als dem leidenschaftlichen Sammeln von Briefmarken (Strauss, 1963, S. 451). Die Wissenschaft nimmt sich selbst die Basis und versagt sich dadurch die Autorität, die doch in der Öffentlichkeit immer wieder aufs Heftigste von ihren Vertreter:innen beansprucht wird (Strauss, 1957, S. 348).
Strauss führt diesen Nihilismus auf den ungelösten Konflikt zwischen menschlichem Wissen und göttlicher Offenbarung zurück—eine Wendung, die zunächst überraschen und innerhalb der Sozialwissenschaften auch etwas deplatziert wirken mag. Dennoch fällt es schwer, diese Problemstellung einfach in den Zuständigkeitsbereich der Religionswissenschaft oder der Theologie zu verbannen. Schließlich enthält sie, in Nasser Behnegars (1997) Worten, „the suggestion that modern science, which prides itself on liberating man from the shackles of tradition, is dogmatic at its core, that is, … the suggestion of a flaw which is least suspected by modern man and most troubling once suspected“ (S. 100).
Was also kann die Beschäftigung mit Leo Strauss‘ Kritik an der Idee von Wertfreiheit in den Sozialwissenschaften uns als (angehende) Vertreter:innen dieser Disziplin heute lehren? Ist sein Verweis auf einen Konflikt zwischen Wissenschaft und Offenbarung ein Grund zur Beunruhigung? Bietet Strauss einen Weg zur Lösung dieses Konflikts an?
Um mich diesen Fragen anzunähern, werde ich im Folgenden zunächst Max Webers Position kurz rekapitulieren. Daraufhin möchte ich dem Nachvollziehen von Strauss‘ Kritikpunkten an der Weber‘schen Position sowie von seiner Argumentation für die zentrale Wichtigkeit des Konflikts zwischen Vernunft und Offenbarung einigen Platz einräumen, denn, wie Behnegar (1997) bemerkt, ist Strauss‘ Argumentationsweise mitunter „extremely difficult to follow“ (S. 102). Schließlich werde ich versuchen, anhand einiger Beispiele und weiterführender Überlegungen die Relevanz von Strauss‘ Theorie für eine heutige Diskussion über Werte in den Sozialwissenschaften und die Rolle der Wissenschaft im Allgemeinen aufzuzeigen.
- Max Webers Forderung nach werturteilsfreier Wissenschaft
Laut Max Weber ist es ein „Gebot der intellektuellen Rechtschaffenheit“ für Wissenschaftler:innen, die Sphären der Werturteile und der empirischen Wissenschaft klar voneinander zu unterscheiden (Weber, 1988a, S. 490–491). Werte und Tatsachen seien durch und durch heterogen (Weber, 1988a, S. 491, S. 500), und die empirische Wissenschaft solle sich ausschließlich mit den letzteren beschäftigen: es gelte herauszuarbeiten, mit welchen Mitteln sich ein gegebenes Ziel erreichen lässt und welche—möglicherweise unerwünschten—Nebeneffekte und Folgen dabei zu erwarten sind (Weber, 1988b, S. 149–150). Zu beurteilen, „inwieweit praktische Wertungen, insbesondere also: ethische, ihrerseits normative Dignität beanspruchen dürfen, also anderen Charakter haben als … subjektive Geschmacksurteile“ ist laut Weber Aufgabe der Moralphilosophie (Weber, 1988a, S. 501); die Wahl der Endzwecke des menschlichen Lebens schließlich erfolgt frei nach der individuellen Weltanschauung eines jeden Menschen (Weber, 1988b, S. 150).
Das Ideal der wertfreien, strikt faktenbasierten Sozialwissenschaften hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts als äußerst einflussreich behauptet (Albert & Topitsch, 1971, S. IX) und machte Weber in den Augen von Leo Strauss zum „greatest representative of social science positivism“ (Strauss, 1957, S. 351). Jedoch war und ist Webers Position immer wieder scharfen Angriffen ausgesetzt—einige davon erfolgten bereits zu seinen Lebzeiten im später so betitelten „Werturteilsstreit“ (Albert & Topitsch, 1971, S. IX), und auch der „Positivismusstreit“ griff 1961 die Kontroverse um Werte in den Sozialwissenschaften wieder auf (Popper, 1972, S. 114; Adorno, 1972, S. 137).
- Problematiken der Werturteilsfreiheit: Leo Strauss‘ Konfrontation
Die Antwort auf Weber, die Leo Strauss 1953 in seiner Monografie Natural Right and History vorlegte, scheint vergleichsweise wenig Beachtung gefunden zu haben (Behnegar, 1997, S. 100). Das mit „Natural Right and the Distinction Between Facts and Values” überschriebene Kapitel zeigt einige Probleme von Webers Position auf, die im Folgenden jeweils für sich behandelt werden sollen. Dabei beziehe ich mich auch auf die in Strauss’ Aufsatz „What Is Political Philosophy?“ (1957) aufgezählten Kritikpunkte am Positivismus (S.349–355), die dort zwar nicht alle direkt auf Weber ausgerichtet sind, aber dennoch wichtige Punkte des erstgenannten Aufsatzes wiederholen.
- Wahl der Fragestellung
Ein Problem, das auf den ersten Blick mit Webers Auffassung einherzugehen scheint, stellt sich bereits mit der Auswahl der Fragestellungen durch die Forschenden: „The questions which we address to social phenomena depend on the direction of our interest or on our point of view, and these on our value ideals“ (Strauss, 1963, S. 422). Da diese Wertvorstellungen immer zeitgebunden sind, ist auch sozialwissenschaftliche Forschung „radically historical“ (Strauss, 1963, S. 422), an die Lebensrealität der Forschenden gebunden und dadurch niemals vollkommen objektiv.
Weber war sich der Situiertheit von wissenschaftlichen Fragestellungen wohl bewusst (Weber, 1988a, S. 499). Er ging allerdings von der transhistorischen Validität der Fakten aus, die durch wissenschaftliche Forschung erkannt werden (Weber, 1988b, S. 155, S. 183–184)—allein die Wichtigkeit oder Aussagekraft dieser Fakten hängt stets vom historischen Referenzrahmen ab (Strauss, 1963, S. 422; Weber, 1988b, S. 184). So ist es der sozialwissenschaftlichen Forschung nach Weber nicht nur erlaubt, sondern geboten, sich auf zu einem bestimmten Zeitpunkt geltende Wertvorstellungen zu beziehen, da sie dadurch ihre Relevanz erhält—wenn sie auch nicht befugt ist, selbst Werturteile zu fällen (Strauss, 1963, S. 423–424).
- Referenzrahmen
Nicht nur die Fragestellung, sondern auch die methodische Herangehensweise und die Interpretation der Forschungsergebnisse sind mit der historischen Position der Forschenden eng verbunden. Auch für Max Weber war das „Verstehen“ anderer Gesellschaften zum Zweck ihrer Beschreibung ein wichtiges Ziel der sozialwissenschaftlichen Forschung (Weber, 1988b, S. 173; Weber, 1988a, S. 503). Allerdings bemerkt Strauss, dass es Weber selbst nicht immer gelungen ist, die historischen Rahmenbedingungen seines eigenen Denkens zu erkennen und bei der Beurteilung des Forschungsgegenstandes außen vor zu lassen: immer wieder wandte er theoretische Schemata auf historische Phänomene an, die von Zeitgenoss:innen sicherlich nicht auf diese Weise verstanden wurden—um nur ein Beispiel zu nennen, wurde Platon beispielsweise zu seinen Lebzeiten vermutlich nicht als „Intellektueller“ betrachtet (Strauss, 1963, S. 438–439).
Als „most telling example“ bezeichnet Strauss (1963) Webers Äußerungen zu historischen Phänomenen wie etwa dem Calvinismus:
Weber said: By calling something the essence of a historical phenomenon, one either means that aspect of the phenomenon which one considers to be of permanent value, or else that aspect through which it has exercised the greatest historical influence. He did not even allude to a third possibility, which is, in fact, the first and most obvious one, namely, that the essence of Calvinism, e.g., would have to be identified with what Calvin himself regarded as the essence, or as the chief characteristic, of his work. (S. 439)
Dass Weber diese Möglichkeit nicht in Betracht zog, sei seiner Tabuisierung von Werturteilen geschuldet gewesen: hätte er den Calvinismus an den Vorstellungen Calvins gemessen, wäre er in seinem berühmten Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ zu der Einsicht gelangt, dass nicht dieser ursprüngliche Calvinismus den kapitalistischen Geist hervorbrachte, sondern eine Abart des Calvinismus: „by avoiding an indispensable value judgment, he was forced into giving a factually incorrect picture of what had happened“ (Strauss, 1963, S. 440).
- Adäquate Beschreibung des Forschungsgegenstands
Wie eben deutlich geworden, besteht also ein weiteres Problem des strikten Verzichts auf Werturteile in der sozialwissenschaftlichen Forschung darin, dass der Untersuchungsgegenstand mitunter nicht korrekt beschrieben werden kann.
Jedoch implizieren auch Webers Formulierungen in seinen religionssoziologischen Schriften häufig Wertungen:
In fact, Weber’s whole sociology of religion stands or falls by such distinctions as those between “ethics of intention” and “priestly formalism” (or “petrified maxims”); “sublime” religious thought and “pure sorcery”; “the fresh source of a really, and not merely apparently, profound insight” and “a maze of wholly unintuitive, symbolistic images”; “plastic imagination” and “bookish thinking”. (Strauss, 1963, S. 433)
Hätte Weber diese Urteile nicht getroffen, dann hätte er seinen Gegenstand verfehlt; und Strauss hält es Weber zugute, dass dessen (möglicherweise nicht bewusst getroffene) Entscheidung immer wieder zugunsten der Werturteile fiel, die es ihm ermöglichten, seine Untersuchungsobjekte angemessen zu beschreiben (Strauss, 1963, S. 433). Hier findet sich also ein Selbstwiderspruch in Webers theoretischem Ansatz.
- Nihilismus
In „Natural Right and the Distinction Between Facts and Values“ stellt Strauss die These auf, dass die konsequent zu Ende gedachte Forderung nach einer wertneutralen Sozialwissenschaft, wie Max Weber sie aufstellt, notwendigerweise in den Nihilismus führt (Strauss, 1963, S. 425). Seine Argumentation möchte ich nun in aller Knappheit nachzuvollziehen versuchen.
Fakten und Werte, bzw. das „Sein“ und das „Sollen“, sind für Weber radikal voneinander verschieden (Strauss, 1963, S. 423–424). Allerdings kann laut Strauss aus dieser Heterogenität noch nicht automatisch geschlossen werden, dass die Sozialwissenschaften sich ausschließlich mit der Sphäre des Seins beschäftigen dürfen: „The true reason why Weber insisted on the ethically neutral character of social science … was … not his belief in the fundamental opposition of the Is and the Ought but his belief that there cannot be any genuine knowledge of the Ought“ (Strauss, 1963, S. 425).
Jedoch kann kaum die Rede davon sein, dass für Weber kein „Sollen“ existierte. Für ihn „liegt die Würde der ‚Persönlichkeit‘ darin beschlossen, daß es für sie Werte gibt, auf die sie ihr eigenes Leben bezieht“ (Weber, 1988b, S. 152); der Weg, eine „Persönlichkeit“ zu werden, ist „die rückhaltlose Hingabe an eine ,Sache‘“ (Weber, 1988a, S. 494); „menschlich sowohl wie beruflich“ soll der „Forderung des Tages“ nachgegangen werden, die „schlicht und einfach [ist], wenn jeder den Dämon findet und gehorcht, der seines Lebens Fäden hält“ (Weber, 1994, S. 111), wobei es sich bei der Wahl des persönlichen Dämonen durchaus um eine „Wahl zwischen ,Gott‘ und ,Teufel‘“ handelt, die jeder Mensch für sich treffen muss (Weber, 1988a, S. 507). Die Unterscheidung von gut und schlecht wird hierdurch auf eine andere Ebene verschoben: „Excellence now means devotion to a cause, be it good or evil, and baseness means indifference to all causes“ (Strauss, 1963, S. 428). Ob man also sein Leben Gott oder dem Teufel widmet, spielt für Weber keine Rolle, solange die Entscheidung zugunsten irgendeiner Passion getroffen wird (Strauss, 1963, S. 429). Die Wissenschaft wird somit zu einer möglichen Präferenz neben vielen anderen—laut Weber stehen der Wissen-schaft außer der Ethik auch noch Wertsphären anderer Art zur Wahl gegenüber (Weber, 1988a, S. 506)—und Webers „categoric imperative“ lautet am Ende lediglich noch „‘Thou shalt have preferences’—an Ought whose fulfilment is fully guaranteed by the Is“ (Strauss, 1963, S. 429). Ausgehend von diesem Satz ließe sich nun auch nicht mehr begründen, warum die Rationalität der Irrationalität, die Ehrlichkeit der Unehrlichkeit und die logische Konsistenz der Inkonsistenz vorzuziehen sei (Strauss, 1963, S. 430). Die Entscheidung, dem „Dämon“ der wertfreien Wissenschaften zu folgen und ihm sein „Tagesgeschäft“ zu widmen, scheint also völlig willkürlich, nur aus einer Laune heraus getroffen worden zu sein—dies schließt auch den Wissenschaftler Weber mit ein.
Strauss beschreibt den hieraus resultierenden Nihilismus als „noble“, da er nicht auf grundsätzlicher Gleichgültigkeit, sondern auf Einsicht beruht—weist dabei aber darauf hin, dass eine derartige Qualifizierung von Webers Position schon einen Bruch mit dessen Ansichten bedeutet (Strauss, 1963, S. 430). Laut Strauss wird dieser Nihilismus in den Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts größtenteils stillschweigend akzeptiert (Strauss, 1963, S. 431).
- Stehen die letzten Werte wirklich in unauflösbarem Widerstreit?
Naheliegenderweise mag sich nun die Frage stellen, warum Weber davon ausging, dass zwischen letzten Werten ein ständiger Kampf besteht, der niemals entschieden werden kann. Strauss führt Webers Position zunächst auf dessen Sozialisation—speziell durch „the spirit of ‘power politics’“—zurück: „Conflict was for Weber an unambiguous thing, but peace was not: peace is phony, but war is real“ (Strauss, 1963, S. 444–445). In Webers eigenen Worten:
… nicht auszuscheiden ist aus allem Kulturleben der Kampf. Man kann seine Mittel, seinen Gegenstand, sogar seine Grundrichtung und seine Träger ändern, aber nicht ihn selbst beseitigen … ,Friede‘ bedeutet Verschiebung der Kampfformen oder der Kampfgegner oder der Kampfgegenstände oder endlich der Auslesechancen und nichts anderes. (Weber, 1988a, S. 517)[2]
Eine solche, nicht weiter belegte, schlichte Annahme über die Grundstruktur des menschlichen Daseins erscheint als Begründung für eine These von derartiger Tragweite unbefriedigend. Eine tatsächliche Beweisführung, die den Kampf zwischen den Werten nach Webers Ansicht belegen könnte, würde allerdings eine enorme Anstrengung ähnlich derjenigen erfordern, die Kant für seine Kritik der reinen Vernunft aufwandte, wie Strauss an anderer Stelle bemerkt (Strauss, 1957, S. 351). Eine derartige Begründung ist in Webers Werk nur schwer zu finden. Dennoch widmet sich Strauss einigen der wenigen vorhandenen Beispiele, die Weber anführte, um seine Position zu untermauern, und mit denen er versuchte, die Grenzen der Ethik aufzuzeigen (Strauss, 1963, S. 447).
Das erste Beispiel betrifft die Wahl einer gerechten Gesellschaftsordnung—in Webers Worten: „Ob man z.B. … dem, der viel leistet, auch viel schuldet, oder umgekehrt von dem, der viel leisten kann, auch viel fordert“ (Weber, 1988a, S. 505). Laut Weber ist keine Ethik in der Lage, diese Frage zu entscheiden—dies erschien ihm offensichtlich so selbstverständlich, dass er dem Beispiel nicht mehr als eine halbe Seite widmete (Weber, 1988a, S. 505). Strauss gibt dieser Problemstellung mehr Raum, stellt zunächst infrage, ob beide Positionen wirklich so einfach als argumentativ gleichwertig bezeichnet werden können—dazu wären die Prämissen, etwa „die Ungerechtigkeit der ungleichen Verteilung der geistigen Gaben“ (Weber, 1988a, S. 505) noch einmal genauer zu überprüfen—und fragt schließlich: „even if one would grant that [the second] view is as defensible as the first, what would follow? That we have to make a blind choice?“ (Strauss, 1963, S. 448). Für Strauss ist nicht ersichtlich, weshalb Weber Fragen „etwa … des nötigen ,Ansporns‘“ (Weber, 1988a, S. 505) komplett aus dem Entscheidungsprozess ausschließt: „is there no connection between justice and the good of society, and between the good of society and incentives to socially valuable activity?” (Strauss, 1963, S. 448). Dieses Beispiel scheint also Webers Postulat der Unvereinbarkeit von letzten Werten nicht ausreichend belegen zu können.
Das zweite Beispiel soll die Unmöglichkeit aufzeigen, zwischen einer Ethik, die „Verantwortung für die als möglich oder wahrscheinlich vorauszusehenden Folgen des Handelns“ beinhaltet, und einer Ethik, in der nur „der Eigenwert des ethischen Handelns—der ,reine Wille‘ oder die ,Gesinnung‘“ zählt, zu entscheiden (Weber, 1988a, S. 505). Als Beispiel für eine Gesinnungsethik letzterer Art dient Weber eine „radikal revolutionäre politische Haltung, der sog. ,Syndikalismus‘“ (Weber, 1988a, S. 505). Das Beispiel des „konsequente[n] Syndikalist[en]“ ist jedoch nicht allzu geschickt gewählt: wie Weber selbst feststellt, ist „sein Reich, wie das Reich jeder Gesinnungsethik, nicht von dieser Welt“ (Weber, 1988a, S. 514)—womit er genau genommen kein Syndikalist mehr wäre, da die inhaltlichen Ziele des Syndikalismus in dieser Welt angesiedelt sind (Strauss, 1963, S. 449). Für Strauss wird hier jedoch die wahre Bedeutung von Webers Position deutlich: „What Weber really meant when speaking of the insoluble conflict between the ethics of intention and the ethics of responsibility was, then, that the conflict between this-worldly ethics and otherworldly ethics is insoluble by human reason“ (Strauss, 1963, S. 449). Dies führt zum zentralen Punkt, auf den Strauss‘ Beschäftigung mit Weber in diesem Kapitel hinausläuft: den Konflikt zwischen Wissenschaft und Offenbarung.
- Der Konflikt zwischen Wissenschaft und Offenbarung[3]
Nach Webers Ansicht sind weder die empirischen Wissenschaften noch die Philosophie mit ihrer „this-worldly orientation“ fähig, objektiv gültige Normen zu begründen (Strauss, 1963, S. 449). Dies könne „nur ein Prophet oder ein Heiland“ (Weber, 1994, S. 105), wobei Weber wiederum den Beweis für diese Behauptung schuldig bleibt (Strauss, 1963, S. 450).
Allerdings ist nicht sofort ersichtlich, warum dieser Konflikt für die Sozialwissenschaften überhaupt von Relevanz sein sollte, die sich doch schließlich „from a this-worldly point of view“ mit dem aus menschlicher Kraft erreichbaren Wissen von sozialem Leben beschäftigt—ob dies nun mit irgendeiner göttlichen Offenbarung übereinstimmt oder nicht (Strauss, 1963, S. 450). Weber beließ es jedoch nicht dabei—schließlich könne der innerweltlichen Perspektive nicht aus rationaler Überlegung der Vorrang gewährt werden:
… he raised the question of whether the search for knowable truth is good, and he decided that this question can no longer be answered by science or philosophy. Science or philosophy is unable to give a clear or certain account of its own basis. … By regarding the quest for truth as valuable in itself, one admits that one is making a preference which no longer has a good or sufficient reason. One recognizes therewith the principle that preferences do not need good or sufficient reason. … the quest for truth has the same dignity as stamp collecting. (Strauss, 1963, S. 451)
Weber gestand ein, dass Wissenschaft immerhin dazu dienen könne, die Menschheit von Illusionen zu befreien (Strauss, 1963, S. 451) und „zur Klarheit“ zu verhelfen (Weber, 1994, S. 103). „But he refused to say that science or philosophy is concerned with the truth which is valid for all men regardless of whether they desire to know it or not“ (Strauss, 1963, S. 451). Strauss sieht die Gründe dafür in Webers Prägung durch den Historizismus, der die historische Situiertheit und Vergänglichkeit aller Gesellschaftsformen hervorhebt (Strauss, 1963, S. 452). Die „Intellektualisierung und Rationalisierung“, die „Entzauberung der Welt“ (Weber, 1994, S. 86–87), die das 20. Jahrhundert prägen, würden mit der Zeit dem Geist der nächsten Epoche weichen—ob überhaupt noch von einer „situation of man as man“ (Strauss, 1963, S. 452) gesprochen werden kann, erscheine dann fraglich. Die Entzauberung oder Rationalisierung, die den Menschen Freiheit von Illusionen verheißt, sei für Weber im Grunde nicht wahrer oder richtiger als die glaubensgeprägten Weltbilder anderer Zeiten (Strauss, 1963, S. 452).
Weber sah sich in eine Epoche der Irreligiosität hineingeboren; da er aber davon ausging, dass Glaubensfragen jeder Entscheidung sich einem Zweck zu widmen zugrunde liegen, musste er also das Verschwinden aller Endzwecke oder Ideale befürchten: „He tended to see before him the alternative of either complete spiritual emptiness or religious revival. He despaired of the modern this-worldly irreligious experiment, and yet he remained attached to it because he was fated to believe in science as he understood it“ (Strauss, 1963, S. 452). Dieser Konflikt stellte sich für Weber als unlösbar dar und begründet nach Strauss seine Ansicht der Unlösbarkeit des Widerstreits zwischen den Werten (Strauss, 1963, S. 452).
Für ein besseres Verständnis, warum Weber der Wissenschaft eine verlässliche Begründung ihres eigenen Wertes absprach, verweist Strauss nun auf die fundamentalste aller Alternativen: „human guidance or divine guidance“ (Strauss, 1963, S. 453)—Philosophie oder Theologie—Wissenschaft oder Offenbarung. Beide können nicht in Synthese oder Kompromiss existieren, denn beide beruhen auf der Annahme einer letzten Notwendigkeit, eines letzten Zweckes: „the one thing needful proclaimed by the bible is the opposite of that claimed by philosophy: a life of obedient love versus a life of free insight“ (Strauss, 1963, S. 453). Zwar erscheint die Möglichkeit der Offenbarung dem menschlichen Verstand als äußerst „uncertain“, doch ist sich der reflektierte menschliche Verstand seiner eigenen Unzulänglichkeit bewusst und schafft es nicht, die Möglichkeit der Offenbarung ganz auszuschließen (Strauss, 1963, S. 453). Daraus erwächst ein ernstes Problem:
… to grant that revelation is possible means to grant … that philosophy is perhaps something infinitely unimportant … that the philosophic life is not necessarily, not evidently, the right life. Philosophy, the life devoted to the quest for evident knowledge available to man as man, would itself rest on an unevident, arbitrary, or blind decision. (Strauss, 1963, S. 453–454)
Diese Problematik liegt laut Strauss Webers Position zugrunde: „He tried to remain faithful to the cause of autonomous insight, but he despaired when he felt that the sacrifice of the intellect, which is abhorred by science or philosophy, is at the bottom of science or philosophy“ (Strauss, 1963, S. 454).
- Diskussion und Ausblick
Strauss‘ in den vorangegangenen Paragrafen nachvollzogene Argumentationsweise erscheint mir nicht leicht nachzuverfolgen oder gar in wenigen prägnanten Sätzen zusammen-zufassen. Dies hat, wie bereits erwähnt, auch Behnegar (1997) festgestellt: „The combination of the radicalness of Strauss’s thought and the dialectical character of his writing makes it extremely difficult to follow Strauss’s individual arguments, not to mention the more comprehensive and serpentine argument that builds on these“ (S. 102). Die dialektische Schreibweise orientiert sich offensichtlich an Platon und gleicht immer wieder einem imaginären sokratischen Dialog, der sich in einem stufenweisen Argumentationsaufbau vollzieht, und teilweise Positionen stark zu machen scheint, die im nächsten Schritt doch wieder verworfen werden (Behnegar, 1997, S. 101, S. 104; Beispiel: Strauss, 1963, S. 426–431).
Im besprochenen Kapitel bietet Strauss keine eindeutige Lösung für das Problem, das die Möglichkeit göttlicher Offenbarung für die Wissenschaft darstellt. Der Vollständigkeit halber soll hier noch erwähnt sein, dass das Problem nicht verschwindet, wenn man von der von Strauss als Beispiel verwendeten Bibel als Offenbarungsschrift absieht: genauso wenig, wie die Wissenschaft beweisen kann, dass die biblischen Propheten allesamt Schwindler und Heuchler waren, kann sie ausschließen, dass sich die Worte des Propheten Mohammed letztendlich als wahr und richtig herausstellen werden—oder dass uns morgen ein fliegendes Spaghettimonster des Lebens letzte Weisheit offenbaren wird.
- Problematiken und aktuelle Beispiele
Die naheliegendste Reaktion für Wissenschafler:innen wäre nun wohl, wie Strauss es an einer früheren Stelle des Kapitels beschreibt (Strauss, 1963, S. 450), sich damit zu bescheiden, dass die Wissenschaft sich aus innerweltlicher Perspektive mit innerweltlichen Problemen beschäftigt; dass „superhuman knowledge or divine revelation“ die Ergebnisse anzweifeln könnten, interessiert dann nicht, da deren Grundlagen von der menschlichen Vernunft ohnehin nicht erfasst werden können (Strauss, 1963, S. 450). Weber ließ es jedoch nicht dabei beruhen und stellte die gesamte Grundlage der Wissenschaft infrage (Strauss, 1963, S. 450–451)—und wenn Philosophie und Wissenschaft die Frage, ob die Suche nach Wahrheit gut oder sinnvoll ist, selbst nicht mehr zufriedenstellend beantworten können, erwächst dies zu einem ernsthaften Problem, wenn wir ein Beispiel wie das folgende betrachten.
Seit sich die Corona-Pandemie 2020 rasant über die ganze Welt ausgebreitet hat, wurde von Wissenschaftler:innen wie beispielsweise Christian Drosten immer wieder die Wichtigkeit der Impfung gegen COVID-19 betont (ZEIT Online, 2021). Die WHO empfiehlt die Impfung zum Schutz der eigenen Person und der Mitmenschen (World Health Organization, 2021). Wie jedoch soll mit Menschen umgegangen werden, die etwa aus religiösen Gründen eine Impfung ablehnen, weil ihnen z.B. von einer religiösen Autorität nahegelegt wurde, dass Gott die Pandemie als verdiente Strafe über die Menschheit gesandt hat (Röther, 2021)? Wenn die Wissenschaft nicht erklären kann, warum es besser sein soll, innerweltlich-wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen zu folgen als vom menschlichen Verstand nicht einsehbaren göttlichen Weisungen, kann nicht einmal eine ernsthafte Diskussion zwischen beiden Seiten zustande kommen. Schlimmstenfalls kommt es hierdurch zu Todesfällen, die mit besserer Überzeugungskraft möglicherweise hätten verhindern können[4].
Oder, um ein anderes aktuelles Beispiel zu wählen: Seit der Übernahme Afghanistans durch die Taliban im August 2021 fürchten afghanische Frauen um ihre Rechte in ihrem Heimatland (Reinhardt, 2021). Wer Webers werterelativistischer Position konsequent folgen möchte, müsste die Ansicht vertreten, dass die Etablierung einer islamischen Rechtsordnung ein nicht inhärent als besser oder schlechter zu bewertendes Ziel ist als die Gleichstellung aller Geschlechter im gesellschaftlichen Leben.
Neben derartigen praktischen Problemen ergeben sich Schwierigkeiten auf theoretischer Ebene, wenn die Wissenschaft als Folge der Einsicht in die Unvereinbarkeit der Endzwecke keine evaluative Position einnehmen will. Dies zeigt sich anhand von Strauss‘ vielleicht plakativstem Beispiel für die Notwendigkeit von Werturteilen in den Sozialwissenschaften: eine wissenschaftliche Beschreibung der Vorgänge in Konzentrationslagern würde deren Essenz komplett verfehlen, wenn Wissenschaftler:innen es sich verbieten würde, diese Praktiken als grausam zu bezeichnen (Strauss, 1963, S. 433–434). Eine Erwiderung darauf könnte lauten: wo ist der Beweis dafür, dass diese Grausamkeit des Holocaust (die vermutlich die schärfsten Verfechter:innen des Positivismus—zumindest im privaten oder politischen Rahmen—nicht leugnen wollen würden) zu jeder Zeit, in jedem Kontext, von jedem Menschen als solche anerkannt werden müsste? So scheint z.B. Eichmann nicht etwa ein Sadist oder ein intellektuell Minderbemittelter gewesen zu sein[5], sondern hielt es wohl lediglich aus einer—sicherlich fehlgeleiteten—kantianisch-individualethischen Sichtweise heraus für seine Pflicht, die Befehle seiner Vorgesetzten auszuführen (Arendt & Fest, 2011, S. 43–44). Diese Beobachtung, sofern sie denn zutrifft, würde zumindest die Behauptung, dass der Holocaust von allen Menschen zu jeder Zeit als grausam erkannt wird, widerlegen.
Anschließend daran stellt sich zunächst die Frage, ob es im Wesen des Holocaust eine Grausamkeit gibt, die unabhängig davon existiert, ob sie von Menschen erkannt wird oder nicht. Diese Frage führt in epistemologische Abgründe, die nicht Gegenstand dieser Arbeit sind; somit lasse ich sie hier beiseite.
Möchte man jedoch mit Strauss davon ausgehen, dass die Grausamkeit des Holocaust unverzichtbarer Teil einer vollständigen Gegenstandsbeschreibung ist, kann nun folgende Frage aufgeworfen werden: dass Eichmann sein Tun nicht als grausam empfand—oder dass, selbst wenn er eine gewisse Grausamkeit in den Konzentrationslagern erkennen konnte, diese ihm offensichtlich nicht als schwerwiegend genug erschien, sein eigenes Handeln zu hinterfragen—war dies nur seiner fehlerhaften Wahrnehmung geschuldet? War Eichmann letzlich doch einfach „completely stupid“? Denn, so Strauss (1963): „Every reader of such a [strictly factual] description [of concentration camps] who is not completely stupid would, of course, see that the actions described are cruel“ (S. 434). Dies würde zu Arendts Einschätzung passen, dass Eichmann eine „Dummheit“ im Sinne eines „Unwille[ns], sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist“ (Arendt & Fest, 2011, S. 44) besaß. Es liegt die Vermutung nahe, dass Eichmann die Grausamkeit des Holocaust sehr wohl erkannt hätte, wenn er diese Fähigkeit besessen hätte.
Wenn Strauss nun sagen möchte, dass die Grausamkeit der Konzentrationslager nur von Dummen verkannt werden könnte, ist dies offensichtlich mit weiteren Problemen verbunden. Denn hier scheint der Gedanke zugrunde zu liegen, dass ein „gesunder Menschenverstand“ ausreiche, um die Grausamkeit der Konzentrationslager eindeutig festzustellen. Zwar würden sicherlich viele Menschen der Einschätzung zustimmen, dass Hitler, Eichmann und Co. von jeglichem gesunden Menschenverstand verlassen waren. Doch wäre dieses Maß an Einigkeit wohl nicht bei jedem beliebigen Beispiel zu erzielen. Der gesunde Menschenverstand, der sicherlich ohne einen gewissen Erfahrungshorizont nicht angenommen werden kann, könnte im Rückgriff auf diese Erfahrungen beispielsweise behaupten: „Es gibt nur zwei Geschlechter“. Oder: „Homosexualität ist eine Abnormität“. Wenn eine soziologische, medizinische oder psychologische Wissenschaft derartige Aussagen anfechten möchte, muss sie deutlich machen können, dass sie zuverlässiger über diese Dinge entscheiden kann als der gesunde Menschenverstand.
- Bietet Strauss eine Lösung für die genannten Probleme an?
Und doch scheint der gesunde Menschenverstand im Sinne eines „common sense“ (Strauss, 1963, S. 455–456) eine gewisse Rolle in Strauss‘ Lösungsansatz für die genannten Probleme zu spielen. Allerdings soll hier zunächst noch vorangestellt werden, dass Strauss an keiner Stelle in „Natural Right and the Distinction Between Facts and Values“ explizit schreibt, dass Weber mit der Behauptung der Unlösbarkeit des Konflikts zwischen menschlicher und göttlicher Weisung Unrecht hatte.
Als Ausweg aus den „awful depths“ des scheinbar ewigen Konflikts zwischen menschlicher und göttlicher Führung bietet Strauss uns zunächst eine „superficiality which, while not exactly gay, promises at least a quiet sleep“ an, die er aus Webers Methodologie heraus entwickelt (Strauss, 1963, S. 454). Bei Weber bedeute wissenschaftliches Verständnis der Realität immer eine bestimmte Art von Transformation der Realität—womit impliziert sei, dass es eine von der Wissenschaft unberührte, eine vorwissenschaftliche Realität geben muss. Diese betrachtete Weber als endlos, bedeutungslos, chaotisch, in zahllose Einzelereignisse unterteilt—jedoch gelang es ihm laut Strauss nicht, konsequent an dieser Position festzuhalten und die Existenz einer „world of common experience“ oder eines „natural understanding of the world“ komplett zu leugnen (Strauss, 1963, S. 455). Strauss schlägt eine Analyse der vorwissenschaftlichen sozialen Realität als Grundlage für die Entscheidung der Frage, ob eine evaluierende Sozialwissenschaft möglich ist, vor. Dazu seien keine „extensive and necessarily hypothetical anthropological studies“ nötig, sondern lediglich eine Rückbesinnung auf die Anfänge der klassischen politischen Philosophie der Antike—unterstützt durch eine Untersuchung der „most elementary premises of the bible“ (Strauss, 1963, S. 456–457). Mit diesem Rückgriff auf die Antike will Strauss einen schädlichen Einfluss von Traditionen und Konventionen verhindern: „Classical political philosophy … belongs to the fertile moment when all political traditions were shaken, and there was not yet in existence a tradition of political philosophy“ (Strauss, 1957, S. 356).
Ist mit dieser „world of common experience“ nun eine Welt des gesunden Menschenverstands im Sinne der o.g. Beispiele gemeint? Sollen wir uns gedanklich in eine Welt zurückversetzen, in der Männer stark sind und Frauen schwach, in der die Sonne sich um die Erde dreht? Strauss (1957) stellt fest: „Whatever the significance of modern natural science may be, it cannot affect our understanding of what is human in man“ (S. 367). Wenn wir nun also aufgrund der Erkenntnisse moderner Biologie möglicherweise besser verstehen, was einen biologischen Mann tatsächlich ausmacht und was nicht, so wissen wir dadurch doch nicht mehr über die „situation of man as man“ (Strauss, 1957, S. 367). Strauss bezieht sich hier auf Sokrates, für den die Erkenntnis, wie viel er nicht wusste, deutlich wichtiger war als alles, was er wusste (Strauss, 1957, S. 367). Strauss möchte also nicht auf die „world of common experience“ zurückgreifen, um dadurch zu irgendwelchen simplen oder offensichtlichen Wahrheiten zu gelangen, sondern um zu einer Haltung zu finden, die Bestehendes hinterfragt und die Brille der bereits auf zahlreichen Abstraktionen aufbauenden Wissenschaften des 20. Jahrhunderts ablegt (Strauss, 1957, S. 357). Mit Formulierungen wie „common sense“ (1963, S. 455–456) scheint Strauss nicht beliebige unreflektierte Meinungen im Sinn zu haben, sondern vielmehr ein „natürliches“ Wissen über die Welt, das keiner Fachsprache, mathematischen Fähigkeiten oder ausgereifter Methodologie bedarf. Formulierungen wie „natural understanding“ (Strauss, 1963, S. 456–457) oder „natural character“ (Strauss, 1957, S. 356) deuten darauf hin.
Wichtig erscheint dabei Behnegars (1997) Feststellung, dass bezüglich des Problems der Wahl zwischen menschlicher oder göttlicher Führung zumindest die Hoffnung auf eine Lösung in Sicht kommt:
… the recovery and comprehensive analysis of the prescientific world would allow us to see the choice between human guidance and divine guidance in its original form and thereby provide us with a basis for responsible judgment on whether it is susceptible of a solution. (S. 123–124)
Strauss präsentiert uns also keineswegs eine fertige Lösung für den Konflikt zwischen Wissenschaft und Offenbarung, sondern zeigt nur eine Möglichkeit auf, mit der dieses Problem einer neuerlichen Betrachtung unterzogen werden kann: unvoreingenommenes Fragen, Prüfen und gegebenenfalls Revidieren der Grundlagen des eigenen Denkens, Bewusstsein über die Begrenztheit des eigenen Wissens.
- Fazit
Über die letzten Seiten hinweg sollte deutlich geworden sein, dass Leo Strauss in „Natural Right and the Distinction Between Facts and Values“ Probleme aufgeworfen hat, die sich nicht auf die leichte Schulter nehmen lassen. Angesichts der Unmöglichkeit, eine einfache Lösung für den Konflikt zwischen Wissenschaft/Philosophie und Religion/Offenbarung zu finden, scheint es, als bliebe für Wissenschaftler:innen die Wahl zwischen zwei Alternativen:
- Die strikte Begrenzung der Wissenschaft und Philosophie auf den Gegenstandsbereich innerweltlicher Phänomene. Diesem Paradigma scheint ein großer Teil der heutigen Wissenschaft zu folgen—sie verbleibt in der Sphäre der eindeutig beweisbaren oder widerlegbaren Erkenntnisse und schweigt zu Fragen nach der Wahl der letzten Ziele—zu sehen etwa am Beispiel der Impfgegner:innen (Röther, 2021). Um noch einmal Max Webers Wortwahl heranzuziehen, ist es dann eine Forderung der intellektuellen Redlichkeit an die Wissenschaftler:innen, die diesen Weg wählen, sich klar zu sein über die Voraussetzungen des eigenen (wissenschaftlichen) Standpunkts, d.h. insbesondere über die Grenzen der Aussage-kraft der innerweltlichen Wissenschaften gegenüber außerweltlichen Phänomenen. Dazu gehört wohl auch eine gewisse „Demut“ gegenüber religiösen oder sonstigen Weltanschauungen, die von der eigenen abweichen. Solange diese nicht eindeutig als falsch widerlegt werden können, mag es für die innerweltliche Wissenschaft ratsam sein, nicht mit Ansprüchen aufzutreten, die nachher nicht gut genug begründet werden können[6].
- Die Suche nach der Möglichkeit einer evaluierenden Wissenschaft bzw. einem Neuanfang der (politischen) Philosophie. Dies scheint der von Strauss präferierte Weg zu sein—die Sozialwissenschaften sollten die vorwissenschaftliche Realität wieder mehr in den Blick nehmen, die politische Philosophie hinter ihre abstrakt-theoretischen Voraussetzungen zurücktreten. Man könnte wohl davon sprechen, dass Strauss eine philosophische Grundhaltung auch in den Sozialwissenschaften präferiert. Er verdeutlicht dies zwar immer wieder mit Verweisen auf die antike Philosophie, jedoch soll diese Rückbesinnung dazu dienen, neue Wissenshorizonte zu erschließen—keinesfalls verfolgt sie den Zweck eines Rückfalls in veraltete Kosmologien (Strauss, 1957, S. 367).
Die bekannten Diskussionen um Wertfreiheit in den Sozialwissenschaften bewegen sich scheinbar größtenteils auf einer Ebene, auf der die Grundlage der Wissenschaft nicht thematisiert wird—Karl Popper und Alison Wylie z.B. scheinen sich bei allen inhaltlichen Differenzen über die Relevanz der Wissenschaft an sich einig zu sein. Indem Strauss am Beispiel Webers offenlegt, dass diese Grundvoraussetzung möglicherweise noch gar nicht ausreichend legitimiert ist, deckt er eine Problematik auf, die Wissenschaftler:innen aller „Lager“ betrifft.
Hier zeigt sich also die Bedeutung von Leo Strauss‘ Positionen für die heutige Wissenschaft. Gerade wenn die Suche nach innerweltlichen Wahrheiten einen praktischen Zweck haben und mehr als bloßes Gedankenspiel sein soll, müssen ihre Vertreter:innen sich der Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Offenbarung stellen. Sie müssen begründen können, warum Wissenschaft und Philosophie für die Menschheit wichtiger sind als Religion—oder die Briefmarkensammlung.
[1] Wie viel diese „Straussianer“ mit Strauss‘ tatsächlicher Lehre zu tun hatten, scheint umstritten zu sein (Zuckert & Zuckert, 2014, S. 13, S. 311); dies soll aber nicht Gegenstand dieser Arbeit sein.
[2] Strauss macht spitzfindig darauf aufmerksam, dass Weber den Frieden hier in Anführungszeichen setzt, den Kampf dagegen nicht (Strauss, 1963, S. 444).
[3] Bei Strauss (1963) werden für diese Gegenüberstellung auf der einen Seite die Begriffe „science“, „philosophy“ und „unassisted reason“ verwendet, oft schreibt er auch „science or philosophy“—diese stellt er der „revelation“, der Theologie oder auch der Bibel als Offenbarungsschrift gegenüber (S. 453–454). Ich werde mich in meinen Formulierungen, soweit möglich, auf die griffige Dichotomie von „Wissenschaft“ und „Offenbarung“ beschränken, auch wenn dem zugrunde genau genommen die Alternative „human guidance or divine guidance“ zu liegen scheint (Strauss, 1963, S. 453).
[4] Dass Menschen, die die Pandemie als Strafe Gottes betrachten, ihren eigenen Tod in Kauf nehmen könnten, braucht wohl die Wissenschaft nicht weiter zu kümmern. Dass jedoch bei einer Verbreitung der Krankheit durch Anhänger:innen dieser religiösen Sichtweise auch Menschen sterben könnten, die nicht an die göttliche Strafe glauben, wäre sicherlich ein Problem, das eine wissenschaftsorientierte Gesellschaft nicht ignorieren wollen würde—wobei immer noch zu bedenken bleibt, dass eine Wissenschaft nach Webers Vorbild im Grunde genommen gar keine soliden Aussagen über den Wert eines menschlichen Lebens treffen kann.
[5] „Eichmann war ganz intelligent“ (Arendt & Fest, 2011, S. 43).
[6] Hierzu mag noch erwähnt sein, dass Vertreter:innen dieser Wissenschaftsauffassung letztendlich darauf angewiesen sind, dass das demokratische Mehrheitsprinzip die Vormacht der Wissenschaft sichert. Denn sobald das demokratische Prinzip selbst infrage gestellt wird und die Wissenschaft dem nichts entgegenzusetzen hat, verliert sie nicht nur ihre Legitimation, sondern vermutlich auch ihren Einfluss.
Literaturverzeichnis
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Arendt, H. & Fest, J. (2011). Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe (U. Ludz & T. Wild, Hrsg.). Piper Verlag.
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Röther, C. (2021, 19. Mai). Christlicher Fundamentalismus – Geimpfte werden geächtet. Deutschlandfunk. https://www.deutschlandfunk.de/christlicher-fundamentalismus-geimpfte-werden-geaechtet.886.de.html?dram:article_id=497431
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ZEIT Online. (2021, 4. September). Corona-Impfung: „Gelassen in den Herbst zu gehen, ist eine gewagte Vorstellung“. https://www.zeit.de/wissen/2021-09/corona-impfung-christian-drosten-impfquote-deutschland-nicht-ausreichend
Zuckert, M. P. & Zuckert, C. H. (2014). Leo Strauss and the Problem of Political Philosophy. The University of Chicago Press.