Befreiungspotenziale in der Musik?
Eine Betrachtung mit Adorno, Horkheimer und Marcuse
1. Einleitung
Was haben Kunst und Freiheit miteinander zu tun? Dass in der breiten Öffentlichkeit die Freiheit für die Kunst beschworen, manchmal auch gegen Kritiker:innen eingefordert wird, ist heutzutage keine Seltenheit (Bartels 2020; Deutsche Presseagentur 2016). Weniger Beachtung scheint dagegen die Frage zu erhalten, was die Kunst für die Freiheit der Menschen bedeutet oder bedeuten könnte. Diese Arbeit beschäftigt sich mit zwei Texten, die von Vertretern der kritischen Theorie Frankfurter Schule verfasst wurden und sich dem Thema von Kunst und Freiheit bzw. Kulturindustrie und Unfreiheit widmen: einerseits, als bekanntes Beispiel für Theodor W. Adornos kritische Perspektive auf die Wechselwirkungen zwischen Musik und Gesellschaft, das Kapitel „Kulturindustrie“ aus der Dialektik der Aufklärung, die er gemeinsam mit Max Horkheimer verfasste; sowie als Kontrast und Ergänzung das Kapitel „Die neue Sensibilität“ aus Herbert Marcuses Versuch über die Befreiung.
Wie in zahlreichen der Schriften Adornos wurde auch für diese Arbeit die Kunstform Musik als Schwerpunkt gewählt. Während Adorno aber zumeist über die kompositorischen Aspekte oder die Rezeption von Musik schrieb, möchte ich in Abschnitt 5 einen Fokus auf die ausübenden Musiker:innen legen, deren Tagesgeschäft darin besteht, Werke anderer Schöpfer:innen aufzuführen. Dabei interessiert mich unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Diskussion der Texte in Abschnitt 2 bis 4, ob und wie Musiker:innen heute in ihrer Arbeit ein emanzipatorisches Interesse vertreten und verwirklichen können, und was für sie aus einer Beschäftigung mit kritischer Theorie zu gewinnen sein könnte.
2. Die Kulturindustrie bei Horkheimer und Adorno
Adorno und Horkheimer üben im Kapitel „Kulturindustrie“ aus der Dialektik der Aufklärung scharfe Kritik an einer Kulturindustrie, die – so der Untertitel des Kapitels – einen Fall von „Aufklärung als Massenbetrug“ darstelle. Diese Kritik soll im Folgenden anhand von vier Fragen nachvollzogen werden.
Grundsätzlich sollte bedacht werden, dass die Autoren als Vertreter der kritischen Theorie von gewissen Voraussetzungen ausgehen. Zum einen ist Wissenschaft für sie keine neutrale Angelegenheit. Ausgangspunkt für kritisches Denken ist stets das Streben nach einem „vernünftige[n] Zustand“ (Horkheimer 2009:190), die kritischen Theoretiker:innen verfolgen ein „emanzipatorische[s] Erkenntnisinteresse“ (Habermas 1969:155). Außerdem steht für Adorno und Horkheimer zum Zeitpunkt der Entstehung der Dialektik der Aufklärung während des Zweiten Weltkriegs fest, dass der aktuelle Zustand der Menschheit von Unfreiheit gekennzeichnet ist: es seien nur mehr „Residuen von Freiheit“ und „Tendenzen zur realen Humanität“, für die das kritische Denken Partei ergreifen könne (Horkheimer und Adorno 2017:IX).
- Warum muss eine Sphäre der Kulturindustrie im Unterschied zur Kunst angenommen werden? Was unterscheidet die beiden Bereiche?
Die Trennung zwischen der „hohen“ Kunst und dem Bereich der Kulturindustrie ist eine wichtige Grundvoraussetzung, die sich nicht nur durch das vorliegende Kapitel, sondern auch durch Adornos weitere Arbeiten zum Thema Kultur und insbesondere Musik zieht. Aus Sicht Adornos ist zwar „die säuberliche Aufteilung des gesellschaftlichen Spannungsfeldes der Musik […] illusionär“ (Adorno 2020:19–20). Jedoch wäre es „ebenso bequem, den Bruch beider Sphären zu verhüllen und ein Kontinuum anzunehmen, das es der kommerziellen Erziehung erlaubte, von kommerziellem Jazz und Schlagern zu den Kulturgütern ungefährdet zu geleiten“ (Adorno 2020:20).
Was kennzeichnet nun zunächst die Kunst? Wesentlich scheint für Horkheimer und Adorno zu sein, dass Kunst sich nicht widerspruchslos in bestehende Verhältnisse einfügt, sondern sich an den vorgefundenen Zuständen abarbeitet. Dies findet Ausdruck z.B. in der Auseinandersetzung mit dem Begriff des Stils: „Die großen Künstler waren niemals jene, die Stil am bruchlosesten und vollkommensten verkörperten, sondern jene, die den Stil als Härte gegen den chaotischen Ausdruck von Leiden, als negative Wahrheit, in ihr Werk aufnahmen“ (Horkheimer und Adorno 2017:138). Kunstwerke enthielten stets ein Versprechen von Versöhnung und Wahrheit, das „so notwendig wie gleißnerisch“ sei:
Es setzt die realen Formen des Bestehenden absolut, indem es vorgibt, in ihren ästhetischen Derivaten die Erfüllung vorwegzunehmen. […] Das Moment am Kunstwerk, durch das es über die Wirklichkeit hinausgeht, ist in der Tat vom Stil nicht abzulösen; doch es besteht nicht in der geleisteten Harmonie, […] sondern in jenen Zügen, in denen die Diskrepanz erscheint, im notwendigen Scheitern der leidenschaftlichen Anstrengung zur Identität. (Horkheimer und Adorno 2017:138–39)
Während die Kunst mit den Verhältnissen ringe, füge sich die Kulturindustrie unkritisch in sie ein. Der Begriff des „echten Stils“ fungiere in der Kulturindustrie nur mehr als „ästhetisches Äquivalent der Herrschaft“ (Horkheimer und Adorno 2017:138), sie sei „[n]ur noch Stil“ (Horkheimer und Adorno 2017:139).
Bezeichnend ist schon die Wortwahl im hier besprochenen Kapitel: der Begriff „Industrie“ scheint mit voller Absicht auf die Assoziation der Fabrik und der Serienproduktion hin gewählt worden zu sein (Horkheimer und Adorno 2017:129). Aber auch der Begriff der „Kultur“ wird an sich schon einer kritischen Betrachtung unterzogen: „geistige Gebilde [werden] als Kultur zusammengebracht und neutralisiert“ (Horkheimer und Adorno 2017:139), es entstünden „gefrorene[] Formtypen“ und ein „Katalog der kulturellen Güter“ (Horkheimer und Adorno 2017:142–43). Unter dem „Generalnenner Kultur“ würden „alle Zweige der geistigen Produktion“, also auch die Kunst, Verwaltungsprozessen unterworfen und dem Geschäftszweck unterstellt (Horkheimer und Adorno 2017:139).
Bemerkenswert ist dabei, dass Horkheimer und Adorno mit der Kulturindustrie nicht die „leichte“ Kunst an sich kritisieren wollen:
„Leichte“ Kunst als solche, Zerstreuung, ist keine Verfallsform. […] Ernste Kunst hat sich jenen verweigert, denen Not und Druck des Daseins den Ernst zum Hohn macht und die froh sein müssen, wenn sie die Zeit, die sie nicht am Triebrad stehen, dazu benutzen können, sich treiben zu lassen. Leichte Kunst hat die autonome als Schatten begleitet. Sie ist das gesellschaftlich schlechte Gewissen der ernsten. (Horkheimer und Adorno 2017:143)
Gegen das Sich-Treibenlassen, „das entspannte sich Überlassen an bunte Assoziation und glücklichen Unsinn“ (Horkheimer und Adorno 2017:151), scheinen Horkheimer und Adorno nichts einwenden zu wollen. Als problematisch sehen sie jedoch den Versuch der Kulturindustrie, diese beiden „unversöhnlichen Elemente der Kultur, Kunst und Zerstreuung durch ihre Unterstellung unter den Zweck auf eine einzige falsche Formel“ zu bringen (Horkheimer und Adorno 2017:144).
- Worin liegen die Gefahren der Kulturindustrie für die Kunst?
Dass auch die „reinen Kunstwerke“ schon „immer zugleich auch Waren“ gewesen sind, wollen Horkheimer und Adorno nicht leugnen (Horkheimer und Adorno 2017:166). Das Ringen der großen Kunst mit den weltlichen Zuständen zeigt sich nach Horkheimer und Adorno aber auch daran, wie Künstler:innen mit wirtschaftlichen Notwendigkeiten, mit dem Widerspruch zwischen den „Gegensätze[n] Markt und Autonomie“ umgehen: „Der Ideologie verfallen gerade jene, die den Widerspruch verdecken, anstatt ihn ins Bewusstsein der eigenen Produktion aufzunehmen“ (Horkheimer und Adorno 2017:166).
Die Autoren meinen jedoch unter dem wachsenden Einfluss der Kulturindustrie eine „Veränderung im Warencharakter der Kunst“ sich anbahnen zu sehen: darin nämlich, „daß er [der Warencharakter] heute geflissentlich sich einbekennt, und daß Kunst ihrer eigenen Autonomie abschwört, sich stolz unter die Kulturgüter einreiht“ (Horkheimer und Adorno 2017:166). Die Kunst werde durch ihre Verbannung in die Sphäre der Kulturwaren dem Zweck der Unterhaltung und Entspannung unterstellt – dabei beobachten Adorno und Horkheimer, dass der erhoffte Nutzen von Kunstwerken paradoxerweise „weiterhin selber eben das Dasein des Nutzlosen [ist], das doch durch die völlige Subsumtion unter den Nutzen abgeschafft wird“ (Horkheimer und Adorno 2017:167).
Der Gebrauchswert in der Rezeption der Kulturgüter – der unmittelbare Genuss – werde durch den Tauschwert ersetzt:
Alles wird nur unter dem Aspekt wahrgenommen, daß es zu etwas anderem dienen kann, wie vage dies andere auch im Blick steht. Alles hat Wert, sofern man es eintauschen kann, nicht sofern es selbst etwas ist. Der Gebrauchswert der Kunst, ihr Sein, gilt ihnen als Fetisch, und der Fetisch, ihre gesellschaftliche Schätzung, die sie als Rang der Kunstwerke verkennen, wird zu ihrem einzigen Gebrauchswert, der einzigen Qualität, die sie genießen. So zerfällt der Warencharakter der Kunst, indem er sich vollends realisiert. […] die Warengattung Kunst, die davon lebte, verkauft zu werden und doch unverkäuflich zu sein, wird ganz zum gleißnerisch Unverkäuflichen, sobald das Geschäft nicht mehr bloß ihre Absicht, sondern ihr einziges Prinzip ist. (Horkheimer und Adorno 2017:167)
Diese „Auflösung ihres genuinen Warencharakters“ bedeute somit nicht einen Zugewinn an Freiheit oder Autonomie für die Kunst, sondern bewirke ihre „Erniedrigung zu Kulturgütern“, die nicht mehr angemessen rezipiert würden. Dies fällt zusammen mit einer immer leichteren Verfügbarkeit der Kulturwaren, etwa über das Radio, die den „Zerfall der Bildung“ und den „Fortschritt der barbarischen Beziehungslosigkeit“ fördere (Horkheimer und Adorno 2017:169).
- Welchen Einfluss übt die Kulturindustrie auf die Konsument:innen aus?
Hörer:innen und Zuschauer:innen werden in Bezug auf die Kulturindustrie nicht als Rezipient:innen gesehen, sondern von Horkheimer und Adorno stets als „Konsumenten“, höchstens als „Publikum“ bezeichnet (Horkheimer und Adorno 2017:130–31). Schon daran zeigt sich, dass die Rezeption der Erzeugnisse der Kulturindustrie in den Augen der Autoren auf eine eher passive Weise geschieht. Die Kulturindustrie fertige ihre Produkte vor und erwarte keine geistige Eigenleistung von den Konsument:innen (Horkheimer und Adorno 2017:132), die über das bloße „[M]itkommen“ (Horkheimer und Adorno 2017:147) hinausginge: die Produkte seien „so angelegt, daß ihre adäquate Auffassung zwar Promptheit, Beobachtungsgabe, Versiertheit erheischt, daß sie aber die denkende Aktivität des Betrachters geradezu verbieten, wenn er nicht die vorbeihuschenden Fakten versäumen will“ (Horkheimer und Adorno 2017:134–35).
Die Kulturindustrie bewirkt laut Horkheimer und Adorno eine Vereinheitlichung ihrer Erzeugnisse: Weiterentwicklungen der Technik hätten „bloß zur Standardisierung und Serienproduktion“ geführt, es würden „an zahllosen Stellen gleiche Bedürfnisse mit Standardgütern beliefert“ (Horkheimer und Adorno 2017:129). Differenzierungen und Klassifizierungen gingen nicht aus den tatsächlichen Qualitätseigenschaften der Werke hervor, sondern dienten vielmehr „der Klassifikation, Organisation und Erfassung der Konsumenten“ (Horkheimer und Adorno 2017:131). Bezogen auf den Inhalt der Erzeugnisse der Kulturindustrie erweise sich die Wahlfreiheit der Konsument:innen „als die Freiheit zum Immergleichen“ (Horkheimer und Adorno 2017:176).
Die Verfassung der Konsument:innen sei „Teil des Systems“, der Rekurs auf deren Geschmack und Wünsche eine „windige[] Ausrede“ der Kulturindustrie (Horkheimer und Adorno 2017:130). Die Autoren sehen einen „Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis“ anstelle einer oft vorgeschützten Anpassung der Kulturindustrie an die Vorlieben des Publikums (Horkheimer und Adorno 2017:129). „Je fester die Positionen der Kulturindustrie werden, um so summarischer kann sie mit dem Bedürfnis der Konsumenten verfahren, es produzieren, steuern, disziplinieren“ (Horkheimer und Adorno 2017:152).
- Worin liegen die Gefahren der Kulturindustrie für die Menschen?
Vermutlich könnte an dieser Stelle gefragt werden, warum all dies so schlimm sein sollte. Was spricht dagegen, dass sich hart arbeitende Menschen zum Feierabend bei etwas leichter Musik entspannen? Salopp gefragt: ist es uns vorzuwerfen, wenn wir nach acht Stunden am Fließband oder im Büro zu erschöpft sind, um uns eine Darbietung von Schönbergs Streichquartetten im Konzerthaus anzuhören? Es mag zudem naheliegen, angesichts von Krieg, Hunger und Zerstörung – die schließlich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht aus der Welt verschwanden – die Kultur als Refugium zu betrachten, den Konzert-Abend als Flucht aus der harten Realität zu begrüßen. Sind die wahren Probleme der Menschheit nicht drängendere als die Frage, ob eine Beethoven-Sinfonie von der breiten Masse noch angemessen rezipiert wird?
Die Kritik von Horkheimer und Adorno geht jedoch über ein bloßes Lamentieren eines Verfalls von Kunst hinaus. Wie bereits erwähnt, scheint es angebracht, die Werke von kritischen Theoretiker:innen immer vor dem Hintergrund eines emanzipatorischen Interesses zu betrachten. Der Verlust von Beziehungen zur Kunst, der Rückgang der Rezeptionsfähigkeit gegenüber den Werken und die widerstandslose Aufnahme der Erzeugnisse der Kulturindustrie bringen in der hier dargestellten Weise eine tieferliegende Problematik für die Menschen mit sich, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
Nach der Argumentation der Autoren stellt die Kulturindustrie den Genuss ihrer Produkte als Ausgleich zum harten Arbeitsalltag für die Konsument:innen dar – man möchte abschalten, sich entspannen. Genau dieses Ziel kann allerdings aus Sicht von Horkheimer und Adorno gar nicht wirklich erreicht werden: „Amusement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozess ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein“ (Horkheimer und Adorno 2017:145). Es könnten in den Produkten der Kulturindustrie lediglich „Nachbilder des Arbeitsvorgangs“ erfahren werden (Horkheimer und Adorno 2017:145), und es werde insbesondere im Kino „zuletzt bloß die Anpreisung des grauen Alltags serviert“, dem man eigentlich entkommen wollte (Horkheimer und Adorno 2017:148).
Eine solche Haltung führe letztlich zur „Apologie der Gesellschaft“ durch die Kulturindustrie; „Vergnügen heißt allemal: nicht daran denken müssen, das Leiden vergessen, noch wo es gezeigt wird“ (Horkheimer und Adorno 2017:153). Die Tragik wie auch die Darstellung von Einzelfällen der Wohltätigkeit und des Mitleids werde in der Kulturindustrie zur Bestätigung der herrschenden Zustände:
Der Nachdruck auf dem goldnen Herzen ist die Weise, wie Gesellschaft das von ihr geschaffene Leiden eingesteht: alle wissen, daß sie im System nicht mehr sich selbst helfen können, und dem muß die Ideologie Rechnung tragen. Weit entfernt davon, das Leiden unter der Hülle improvisatorischer Kameradschaft einfach zuzudecken, setzt die Kulturindustrie ihren Firmenstolz darein, ihm mannhaft ins Auge zu sehen und es in schwer bewahrter Fassung zuzugeben. Das Pathos der Gefaßtheit rechtfertigt die Welt, die jene notwendig macht. So ist das Leben, so hart, aber darum auch so wundervoll, so gesund. (Horkheimer und Adorno 2017:160)
Die Ideologie der Kulturindustrie sei „gespalten in die Photographie des sturen Daseins und die Lüge von seinem Sinn“ (Horkheimer und Adorno 2017:156). Das „schlechte Dasein“ werde „durch möglichst genaue Darstellung ins Reich der Tatsachen“ erhoben und dadurch „selber zum Surrogat von Sinn und Recht“ (Horkheimer und Adorno 2017:157).
All diese Vorwürfe an die Kulturindustrie sind im hier behandelten Kapitel eng verbunden mit der Kritik an liberaler Ideologie. Es zeige sich in der Kulturindustrie etwa „die Tendenz des Liberalismus, seinen Tüchtigen freie Bahn zu gewähren“ als „Funktion des sonst bereits weithin regulierten Marktes, dessen Freiheit schon zu seiner Glanzzeit in der Kunst wie sonstwo für die Dummen in der zum Verhungern bestand“ (Horkheimer und Adorno 2017:140). Dabei sei zwar die „formale Freiheit eines jeden […] garantiert“ (Horkheimer und Adorno 2017:158); nicht nur in der wirtschaftlichen Sphäre, sondern auch in den Werdegängen und Darstellungen der Kulturindustrie gälten die Menschen als ihres eigenen Glückes Schmied. Jedoch werde durch die Kulturindustrie „[w]er hungert und friert, gar wenn er einmal gute Aussichten hatte“ zum „Outsider“ gemacht, im Film „günstigstenfalls zum Original, dem Objekt böse nachsichtigen Humors“ (Horkheimer und Adorno 2017:159).
Die Macht der Kulturindustrie hat für Horkheimer und Adorno also schwerwiegendere Konsequenzen als lediglich ein Absterben der menschlichen Fähigkeiten zur angemessenen Kunst-Rezeption oder eine Abnahme im Niveau der Werke. Die Kulturindustrie bietet nach ihrer Darstellung nicht „Flucht vor der schlechten Realität, sondern vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene noch übriggelassen hat“ (Horkheimer und Adorno 2017:153) – sie verfestigt die Unfreiheit der Menschen. Für Horkheimer und Adorno entfesselt der technische Fortschritt keine neuen Möglichkeiten in der Kunst, Aufklärung ist nicht gleichbedeutend mit dem Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Sie wird in der Kulturindustrie zum Massenbetrug.
3. Die „neue Sensibilität“ bei Marcuse
Es scheint sich nun die Frage geradezu aufzudrängen, ob nicht bei all dem Unheil, das Adorno und Horkheimer mit der wachsenden Macht der Kulturindustrie heraufziehen sehen, Potentiale in der hohen Kunst zu finden wären, die dieser Tendenz entgegenwirken könnten. Tatsächlich äußert sich Herbert Marcuse in seinem 1969 erschienenen Essay Versuch über die Befreiung wesentlich optimistischer über den damaligen Zustand und die Möglichkeiten der Kunst als Horkheimer und Adorno ein Vierteljahrhundert zuvor. Insbesondere im Kapitel „Die neue Sensibilität“ beleuchtet er Seiten der Kunst, die er für geeignet hält, einen gesellschaftlichen Wandel anzustoßen.
Zu bedenken sind die unterschiedlichen historischen Kontexte, in denen die Dialektik der Aufklärung und der Versuch über die Befreiung jeweils entstanden sind. Während erstere noch während des Zweiten Weltkriegs der Frage nachgehen wollte, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“ (Horkheimer und Adorno 2017:1), schrieb Marcuse seinen Versuch Ende der 60er-Jahre angesichts einer „wachsende[n] Opposition gegen die weltweite Herrschaft des korporativen Kapitalismus“ und einer „andere[n] Hoffnung bei jenen Männern und Frauen, die der massiven ausbeuterischen Gewalt des korporativen Kapitalismus selbst in seinen komfortabelsten und liberalsten Verwirklichungen trotzen und widerstehen“ (Marcuse 2008:9). Konkreten Bezug nimmt er immer wieder auf die Aufstände in Frankreich 1968, die er positiv bewertet (Marcuse 2008:11–12).
- Was ist die neue Sensibilität? Wie hängt sie mit Kunst zusammen?
Im ersten Kapitel des Versuchs etabliert Marcuse, dass der Aufbau einer freien Gesellschaft „einen Menschentyp voraus[setzt], der sowohl eine andere Sensibilität als auch ein anderes Bewußtsein besitzt: Menschen, die eine andere Sprache sprechen, andere Ausdrucksformen haben, anderen Impulsen folgen; Menschen, die eine Schranke gegen Grausamkeit, Brutalität und Häßlichkeit aufgerichtet haben“ (Marcuse 2008:40). Problematisch daran sei, dass ein solcher neuer Menschentyp einen „Bruch mit dem sich automatisch vorwärtsbewegenden konservativen Kontinuum der Bedürfnisse“ zur Voraussetzung habe, der nur im Rahmen einer Revolution erwirkt werden könne, die aber wiederum nur durch das Wirken andersartiger menschlicher Bedürfnisse zustande kommen könne – ein „circulus vitiosus“ (Marcuse 2008:36).
Jedoch ist Marcuse der Ansicht, dass eine „neue Sensibilität“ bereits „zur politischen Kraft geworden“ ist (Marcuse 2008:41), eine „Reizbarkeit gegenüber Herrschaft […]: das Gefühl und das Bewußtsein, daß die Freude an der Freiheit und das Bedürfnis, frei zu sein, der Befreiung vorangehen müssen“ (Marcuse 2008:130).
Was haben nun diese neue Sensibilität und ihr revolutionäres Potential mit Kunst zu tun? Marcuse wendet sich im vorliegenden Kapitel zunächst dem Ästhetischen und der Idee des Schönen zu. Nach seiner Rekonstruktion wurde dem Schönen traditionellerweise die Fähigkeit zugesprochen, Aggression zu zügeln, zu verbieten und zu lähmen; das Schöne wurde mit Erfüllung und Vollkommenheit in Verbindung gebracht; auch Nützlichkeit und Wohltätigkeit wurden ihm zugeschrieben (Marcuse 2008:47–48). Verließen diese Qualitäten den Bereich der ästhetischen Fantasie, könnten sie als ästhetische Bedürfnisse einen sozialen Gehalt haben: diese Bedürfnisse seien „Ansprüche des menschlichen Organismus, Geistes und Körpers auf eine Erfüllung, die nur im Kampf gegen die Institutionen erzielt werden kann, die durch ihr Funktionieren diese Ansprüche verneinen und verletzen“ (Marcuse 2008:48). Deshalb könne das Schöne „als eine Art Eichmaß für eine freie Gesellschaft dienen“ (Marcuse 2008:48); eine „ästhetische Moral“ verlange die „Reinigung der Erde von dem sehr materiellen Unrat, der durch den Geist des Kapitalismus produziert wurde, und von diesem Geist selbst“ und bestehe auf „Freiheit als einer Notwendigkeit“ (Marcuse 2008:49). Die neue Sensibilität kann somit auch als ästhetischer Sinn verstanden werden.
In der Rebellion der späten 60er-Jahre reiche der politische Protest in die bis dahin „wesentlich apolitisch[e]“ ästhetische Dimension hinein. Dadurch trete die „Aussicht auf ein neues Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Vernunft zutage, nämlich die Harmonie zwischen Sinnlichkeit und einem radikalen Bewußtsein: rationale Vermögen, die imstande sind, die objektiven (materiellen) Bedingungen der Freiheit, ihre wirklichen Grenzen und Chancen zu ermitteln und zu definieren“ (Marcuse 2008:52). Würde eine derartige Verbindung von Ästhetik und Rationalität die Welt umgestalten, dann könnte die Wirklichkeit „die menschlichen Fähigkeiten und Wünsche in solchem Maße (buchstäblich!) umfassen und in sich aufnehmen, daß sie als Teil des objektiven Determinismus der Natur erscheinen – eine Koinzidenz der Kausalität aus Natur und der Kausalität aus Freiheit“ (Marcuse 2008:53).
Eine derartig tragende Rolle des Ästhetischen beim Aufbau der freien Gesellschaft würde laut Marcuse im Endeffekt bewirken, dass die Wirklichkeit zu einem Kunstwerk würde; dies würde „das Ende der Trennung des Ästhetischen vom Wirklichen, aber ebenso das Ende der kommerziellen Vereinigung von Geschäft und Schönheit, Ausbeutung und Freude“ bedeuten (Marcuse 2008:54). Es würde also zur Aufhebung der Kunst im traditionellen Sinne kommen, ebenso aber zum Ende der kapitalistischen Kulturindustrie, auch wenn Marcuse diesen Begriff nicht verwendet.
- Warum ist eine solche Sensibilität bislang nicht zum Wirken gekommen? Was hindert die Kunst daran, praktisch zu werden?
Die „zeitgenössische[] Kunst“ (Marcuse 2008:63) arbeitet laut Marcuse gegen die zweifache Beschränkung der menschlichen Fantasie durch die Ordnung der Sinnlichkeit – Raum, Zeit, Objekte – und durch die Grenzen des rationalen Vermögens (Marcuse 2008:50): sie löse alte Wahrnehmungsstrukturen auf und schaffe Platz für neue, noch nicht vorgegebene Gegenstände, einen neuen Entwurf der Wirklichkeit (Marcuse 2008:63). Sie insistiere auf radikaler Autonomie und verpflichte sich der künstlerischen Form, der „Sache selbst“ – und dies sei der Grund, warum sie bislang „der revolutionären Praxis fremd“ geblieben sei (Marcuse 2008:64). Dennoch sei es „[e]ben die Form […], deretwegen Kunst die gegebene Wirklichkeit transzendiert, in der etablierten Wirklichkeit gegen die etablierte Wirklichkeit arbeitet“ (Marcuse 2008:65). Die neue Kunst, die für Marcuse mit der „große[n] künstlerischen Rebellion zur Zeit des Ersten Weltkriegs“ aufkam (Marcuse 2008:66), protestiere gegen die traditionelle Bedeutung von Kunst, gegen Kunst als Illusion, auch gegen die naive Aufnahme von etablierten Besitzvorstellungen in die Darstellungsformen traditioneller Kunst (Marcuse 2008:67).
Ein tatsächlicher Wandel sei bislang allerdings auch innerhalb der Kunst nicht zustande gekommen: „Und doch ist diese ganze Ent-Formung Form: Anti-Kunst ist Kunst geblieben, wird als Kunst geliefert, gekauft und betrachtet. Die wilde Revolte der Kunst war ein kurzlebiger Schock […]“ (Marcuse 2008:67). Die Form der Kunst sei ihrem Sinn nach „die Negation, die Beherrschung der Unordnung, der Gewalt, des Leidens, selbst wenn sie Unordnung, Gewalt und Leiden vorführt“ (Marcuse 2008:69). Es sei „die innere Zweideutigkeit der Kunst: dasjenige anzuklagen, was ist, und die Anklage in der ästhetischen Form (das Leiden, das Verbrechen tilgend) ‚aufzuheben‘“ (Marcuse 2008:69). Die Kunst beinhalte eine Katharsis – aber „das Ergebnis ist illusionär, falsch und fiktiv: es verbleibt in der Dimension von Kunst, ein Kunstwerk; in Wirklichkeit setzen sich Furcht und Versagung unvermindert fort“ (Marcuse 2008:70). Die materielle Wirklichkeit sei hinter Vernunft und Fantasie zurückgeblieben und Kunst sei stets „etwas Irreales, Ausgedachtes und Fiktives“ geblieben (Marcuse 2008:62).
- Wie können diese Probleme überwunden und das Ästhetische praktisch werden?
Dennoch ist der Grundtenor des Textes ein optimistischer: Marcuse ist schließlich der Ansicht, dass die neue Sensibilität bereits „zum politischen Faktor geworden“ ist (Marcuse 2008:43). Um einen ästhetisch fundierten Umbau der Gesellschaft zu entwerfen und zu lenken, müssten die neue Sensibilität und das neue Bewusstsein mit dem Vokabular der Herrschaft brechen – sowohl im sprachlichen als auch im weiteren künstlerischen Sinn (Marcuse 2008:55). Derartige Versuche habe es, beispielsweise mit dem Surrealismus, schon gegeben; jedoch sei die „Distanz zwischen der Welt der Poesie und jener der Politik“, „die Kluft zwischen Alltagssprache und dichterischer Sprache“ zu groß, als dass es je in der Beziehung zwischen beiden zu einem Wandel gekommen sei (Marcuse 2008:56–57).
„Heute“, in den 60er-Jahren, sei jedoch „der Bruch mit dem sprachlichen Universum des Establishments radikaler“ (Marcuse 2008:58). Dabei sei die Rebellion gegen das Schöne in der etablierten Kultur, die Marcuse hier beobachtet (Marcuse 2008:73–74), erst eine Anfangsstufe:
Noch ist, was hier geschieht, die einfache, elementare Negation, die Antithese: die Position der unmittelbaren Verweigerung. Diese Entsublimierung läßt die traditionelle Kultur, die illusionistische Kunst unbesiegt hinter sich; ihre Wahrheit und ihre Ansprüche bleiben gültig neben und zusammen mit der Rebellion, innerhalb derselben gegebenen Gesellschaft. Die rebellische Musik, Literatur und Kunst werden auf diese Weise mühelos vom Markt absorbiert und geformt – entschärft. (Marcuse 2008:74)
Die rebellischen Künste verblieben noch zu sehr beim direkten Appell und der Vertrautheit in der Darstellung; um wirksam zu werden, müsse der Sieg der rebellischen Kunst über diese Vertrautheit erst gewonnen werden (Marcuse 2008:74–75). Eine noch zu erreichende Entwicklung, die doch in der Gegenwart schon spürbar sei: „in ihrer Negativität ‚antizipieren‘ die heutige entsublimierende und Anti-Kunst eine Stufe, auf der die Kapazität der Gesellschaft zu produzieren dem schöpferischen Vermögen der Kunst und der Bau der künstlerischen Welt dem Umbau der wirklichen ähneln kann […]“ (Marcuse 2008:75–76).
Was muss also geschehen, damit „das Ästhetische zur gesellschaftlichen Produktivkraft werden und als solche zum ‚Ende‘ der Kunst durch ihre Verwirklichung führen könnte“ (Marcuse 2008:71)? Marcuse setzt hier ein gewisses Vertrauen in die „befreienden Möglichkeiten von Technik und Wissenschaft“: diese enthielten die Möglichkeit zur Beherrschung der Notwendigkeiten und dem Entlassen der Fantasie aus den Diensten der Ausbeutung (Marcuse 2008:72). Wo jedoch der erste Schritt erfolgen müsste – in einer Befreiung der Kunst oder in einem Wandel der Technik von ausbeuterischer hin zu befreiender Wirkung – diese Frage muss hier offen gelassen werden.
4. Vergleich und Verbindung der beiden Ansätze
- Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Trotz der bleibenden Eindrücke von Optimismus bei Marcuse und Pessimismus bei Horkheimer und Adorno weisen die Ansätze auch einige Übereinstimmungen auf.
Einig sind die Autoren sich als Vertreter einer kritischen Theorie in ihrer Ablehnung des Kapitalismus, insbesondere seiner Einflussnahme auf menschliche Bedürfnisse. Marcuse beschreibt im ersten Kapitel des Versuchs eine „zweite Natur des Menschen“, die vom Kapitalismus erzeugt und „libidinös und aggressiv an die Warenform“ gebunden sei; die dadurch entstandenen „stabilisierende[n], konservative[n] Bedürfnisse“ fungierten als Sicherung der Machtverhältnisse (Marcuse 2008:28). Bei Horkheimer und Adorno ist es, etwas spezifischer, die Kulturindustrie, die mit zunehmendem Einfluss „um so summarischer […] mit dem Bedürfnis der Konsumenten verfahren, es produzieren, steuern, disziplinieren“ kann (Horkheimer und Adorno 2017:152).
Auch dass ernstzunehmende Kunst sich auf eine Weise an der Wirklichkeit abarbeiten muss, steht für alle drei Autoren fest. Wie dies genau geschieht, bzw. zu geschehen hat, stellt sich jedoch bei Horkheimer und Adorno etwas anders dar als bei Marcuse. Letzterer schreibt der Kunst die Fähigkeit zu, kraft ihrer Form die etablierte Wirklichkeit zu transzendieren und gegen sie zu arbeiten; auch könne Kunst die Erfahrung ändern und „eine Objektivität mit[teilen], die gewöhnlicher Sprache und gewöhnlicher Erfahrung nicht zugängig ist“ (Marcuse 2008:65–66). Er macht der Kunst jedoch auch den Vorwurf, illusionär geblieben zu sein, entrückt zu einer „zweiten Realität“; sie habe bestehende Besitzverhältnisse und Verdinglichungen naiv in sich aufgenommen (Marcuse 2008:67–68). Wesenszug der künstlerischen Form sei es, ihren Inhalt oder Stoff zu bewältigen und zu ordnen, ihn ihren eigenen Gesetzen zu unterwerfen – das angeklagte Leiden werde in der ästhetischen Form tilgend aufgehoben (Marcuse 2008:69). Die Katharsis in der Kunst sei „illusionär, falsch und fiktiv“, da sich das Leiden in der Wirklichkeit fortsetze (Marcuse 2008:70).
Dabei arbeitet Marcuse im vorliegenden Kapitel hauptsächlich mit dem Gegensatz zwischen einer traditionellen oder „illusionären“ Kunst (Marcuse 2008:66–67) und „zeitgenössischer“ oder „Anti-“Kunst, deren Aufkommen er zur Zeit des Ersten Weltkriegs verortet (Marcuse 2008:66), die aber trotz aller Bemühungen immer noch Kunst geblieben sei und sich deshalb noch nicht von den eben genannten Problemen lösen konnte (Marcuse 2008:67). Horkheimer und Adorno unterscheiden dagegen emphatisch, möglicherweise manchmal etwas zu trennscharf – man denke etwa an Adornos beißende Kritik am „Jazz“ (Adorno 2018) – zwischen Kunst und Kulturindustrie. Dies erlaubt es ihnen, in ihrer Kritik etwas differenzierter vorzugehen: etwa, wenn sie den Vorwurf einer falschen Katharsis auf sehr ähnliche Weise wie Marcuse erheben, ihn aber in erster Linie gegen die Kulturindustrie richten: die „Innerlichkeit, die subjektiv beschränkte Gestalt der Wahrheit“ werde von der Kulturindustrie „zur offenen Lüge hergerichtet“; von den Menschen werde sie „als Salbaderei erfahren“, die dazu diene, „die eigene menschliche Regung desto sicherer beherrschen zu können“ (Horkheimer und Adorno 2017:152). Auch die Kunst mache mit dem Stil ein Versprechen von Versöhnung, jedoch erzeugt für Adorno und Horkheimer nicht wie bei Marcuse jedes Kunstwerk allein durch seine Form eine falsche Katharsis: „in jenen Zügen, in denen die Diskrepanz erscheint, im notwendigen Scheitern der leidenschaftlichen Anstrengung zur Identität“ gehe die Kunst tatsächlich über die Wirklichkeit hinaus (Horkheimer und Adorno 2017:139). Adorno meint beispielsweise in den Kompositionen Johann Sebastian Bachs auf „eine Doppeldeutigkeit des Fortschritts selber“ zu stoßen (Adorno 2018:145), bei Gustav Mahler tauche „Ausgeleierte[s]“ und „vernutzte[s]“ Material „in der Gestalt seiner Depravation“ auf und gewänne daraus ein „zweites Leben“ (Adorno 2020:49). Es kann also aus dieser Negativität, diesem Kampf der Kunst mit dem Vorgefundenen, etwas Positives entstehen.
Wie solche Entwicklungen allerdings auf einen gesellschaftlichen Maßstab ausgedehnt werden können, ob sich die Menschen mithilfe der Kunst aus den Fängen der Kulturindustrie befreien könnte, darüber äußern sich Horkheimer und Adorno im „Kulturindustrie“-Kapitel nicht. Marcuse wird diesbezüglich etwas konkreter und schreibt der Kunst grundsätzlich die Fähigkeit zu, Wahrnehmungsstrukturen und Bedürfnisse zu verändern (Marcuse 2008:63, 75).
- Versuch einer Zusammenführung
Ungeachtet dessen, dass die Unterschiede der beiden hier vorliegenden Ansätze größer sein mögen als die Gemeinsamkeiten, außerdem unter der Annahme, dass die hier behandelten Kapitel nur kleine Ausschnitte aus den Werken der Autoren darstellen, möchte ich dennoch versuchen, die beiden Ansätze zusammenzubringen. Im Zuge eines solchen Versuches könnte sich folgendes Bild ergeben:
Es ist eine Eigenart des Kapitalismus, dass er es versteht, die menschlichen Bedürfnisse zu formen; und zwar auf eine Weise, dass die Menschen ihre Befriedigung im Konsum und Erwerb von Waren erfüllen zu müssen meinen (Marcuse 2008:26–27). Diese Bedürfnisse sind bereits in der Triebstruktur der Menschen verankert und bewirken eine Stabilisierung kapitalistischer Verhältnisse und all der Unfreiheiten, die diese mit sich bringen (Marcuse 2008:27–28). Dieser Mechanismus ist auch ein wesentlicher Teil der Kulturindustrie, deren Produkte Gegenstände menschlicher Bedürfnisse geworden sind (Horkheimer und Adorno 2017:129, 141–42, 152). Diese Erzeugnisse der Kulturindustrie können allerdings bei genauer Betrachtung das Versprechen von Genuss und Vergnügen nicht erfüllen (Horkheimer und Adorno 2017:145), selbst zur angepriesenen Ablenkung taugen sie in Wahrheit nicht (Horkheimer und Adorno 2017:147). Auch die höhere Kunst kann hier keine Abhilfe verschaffen: sie wird gemeinsam mit der Kulturindustrie unter den Bereich der Kultur subsumiert (Horkheimer und Adorno 2017:139, 144), es bestehen keine wirklichen Unterschiede mehr in der Art, wie beider Erzeugnisse gemeinhin rezipiert werden (Adorno 2020:21).
Wenn die Kunst ihre Potentiale ausspielen wollte, müsste sie den kritischen Umgang mit dem vorgefundenen Material (wieder) zu ihrer Hauptaufgabe machen (Horkheimer und Adorno 2017:138–39; Marcuse 2008:67). Sie sollte nicht illusionär bleiben und dürfte keine falsche Katharsis vorspielen (Marcuse 2008:70), sondern müsste eingestehen, dass ihr Versuch der Versöhnung scheitern muss (Horkheimer und Adorno 2017). Dadurch könnte sie die Wahrnehmung der Menschen verändern, die Vertrautheit mit den Zuständen durchbrechen (Marcuse 2008:75), in einen Dialog mit der Macht treten (Adorno 2020:50), und damit die Menschen der Freiheit ein Stück näher bringen.
Es verhält sich somit für Horkheimer, Adorno und Marcuse mit der Kunst einigermaßen ähnlich wie mit der Theorie: kritisches Verhalten ist gefragt. Wie die Freiheit aussehen mag, zu der dieses Verhalten führen wird, ist offen. So schreibt Marcuse: „Der neue Gegenstand der Kunst ist noch nicht ‚gegeben‘, aber der herkömmliche ist unmöglich, falsch geworden“ (Marcuse 2008:63); bei Horkheimer heißt es: „Das Ziel, das es [das kritische Denken] erreichen will, der vernünftige Zustand, gründet zwar in der Not der Gegenwart. Mit dieser Not ist jedoch das Bild ihrer Beseitigung nicht schon gegeben“ (Horkheimer 2009:190). Vielleicht gäbe es in einer völlig befreiten Gesellschaft überhaupt keine Kunst mehr, oder wäre sie zumindest von anderen Formen des menschlichen Daseins wie Arbeit oder Spiel nicht mehr abzugrenzen – diese Möglichkeiten finden sich bei Marcuse angedeutet (Marcuse 2008:54).
5. Ausblick: Mögliche Auswirkungen der theoretischen Überlegungen auf künstlerische Arbeit im 21. Jahrhundert
Nach dieser Beschäftigung mit den kunsttheoretischen Ansätzen von Marcuse, Horkheimer und Adorno möchte ich nun einen kurzen Blick auf die heutige Praxis des Musizierens werfen. Als Musiker:in soll dabei gelten, wer, genre-unabhängig, an einer Musikhochschule studiert und die Musik zum Beruf gemacht hat, ob nun als Selbstständige:r oder Angestellte:r; pädagogische Tätigkeit wird hier außen vor gelassen. Welche Schlüsse wären für Musiker:innen aus den vorangegangenen Betrachtungen zu ziehen?
Zunächst muss festgehalten werden, dass das Gros der Studierenden an Musikhochschulen im Bereich der klassischen Instrumentalmusik studiert (Deutsches Musikinformationszentrum 2021). Studierende der Komposition machen nur 1,4% der Gesamtanzahl aus, Studierende im Bereich Jazz und Pop – wo es üblicher ist als im klassischen Bereich, dass die Musiker:innen improvisieren und teilweise auch eigene Stücke komponieren – 5,0% (Deutsches Musikinformationszentrum 2021). Wenn man von einer ähnlichen Verteilung in den letzten Jahrzehnten ausgeht, bedeutet dies, dass der Berufsalltag der meisten Musiker:innen im klassischen Bereich heute darin besteht, Werke anderer – in aller Regel längst verstorbener – Komponist:innen aufzuführen; dies legen auch z.B. Statistiken über die meistgespielten Opern nahe, unter denen sich kein zeitgenössisches Werk befindet (Deutsches Musikinformationszentrum 2021). Und während ein Saxofonist in seinem Jazz-Quartett eigene Stücke aufführen, in den Improvisationen Grenzen ausloten und mit seinen Mitmusiker:innen in einen spontanen Dialog treten kann, ist eine Cellistin am letzten Pult der Berliner Philharmoniker in ihren kreativen Möglichkeiten deutlich stärker eingeschränkt. Sie hat als Individuum so gut wie keinen Einfluss auf die Programmplanung des Hauses oder die Interpretation der Dirigent:innen. „Die, welche finanzieren, bestimmen auch den Kurs“ (Adorno 2020:317) – dies gilt vermutlich heute wie in den 60er-Jahren.
Auch drängt sich die Vermutung auf, dass an den Musikhochschulen alles andere als ein kritischer Umgang mit dem Material vermittelt wird. Vielmehr könnte es als die Spitze der Katalogisierung der kulturellen Güter und der Verdinglichung von geistigen Erzeugnissen betrachtet werden, dass Orchester und Hochschulen seit Jahrzehnten davon ausgehen, dass ein Violinkonzert von Mozart die einzige Möglichkeit ist, die Fähigkeiten und die Eignung von jungen Geiger:innen für eine Anstellung in einem Orchester zu überprüfen – Kunst wird hier zum Messinstrument für instrumental-„technische“ Fähigkeiten (Bellmann 2020:40–41). Wenn Musiker:innen eine Position in einem Orchester anstreben, müssen sie sich diesen Regularien beugen – künstlerische Freiheit drückt sich damit im Rahmen von Probespielen wohl nur mehr an interpretatorischen Nuancen aus, und selbst diesbezüglich gelten gewisse Standards, deren Missachten Irritationen hervorrufen können (Bellmann 2020:54–55).
Doch auch wenn sich Musiker:innen gegen eine feste Anstellung und für ein Leben als Selbstständige entscheiden, bewegen sie sich nicht unabhängig vom Markt; sie müssen schließlich mit ihrer Musik ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie sind abhängig davon, dass eine gewisse Menge an Publikum ihre Konzerte besucht; und hier zeigt sich immer wieder, dass – zumindest in der klassischen Musik – Altbekanntes deutlich besser aufgenommen wird als Neues und Ungewohntes (Deutsches Musikinformationszentrum 2021). Folgt man der Argumentation von Horkheimer und Adorno, können die Wünsche des Publikums allerdings nicht zur Entschuldigung dienen: wenn Musiker:innen als Teile der Kulturindustrie fungieren, machen sie sich gewissermaßen mitschuldig an der Vereinheitlichung und Verfestigung der Bedürfnisse der Konsument:innen.
Möglicherweise wäre eine Grundvoraussetzung dafür, dass in der klassischen Musik auch zum Wohle des Publikums wieder mehr Wagemut und Experimentierfreude aufkommen könnte, die Sicherung der wirtschaftlichen Existenz der Musiker:innen. Die Corona-Pandemie hat die Popularität von Ideen wie der eines bedingungslosen Grundeinkommens zwar bestärkt (Deutsches Musikinformationszentrum 2020; Wissing 2020) – eine Diskussion auf breiter Basis findet jedoch bislang nicht statt. Doch selbst wenn die Musikwelt sich von heute auf morgen vollkommen von wirtschaftlichen Zwängen befreien könnte, wäre es wohl fraglich, ob eine Musik, die Hörer:innen fordert und inspiriert anstatt ihnen zum Abschalten oder zur Hintergrundbeschallung zu dienen, vom größeren Teil der Menschen überhaupt angenommen werden würde. Wenn man mit Marcuse, Horkheimer und Adorno davon ausgeht, dass die von der Kulturindustrie erzeugten Bedürfnisse nach Unterhaltung und leichter Kost bereits in unsere Natur eingesunken sind, lässt sich vermuten, dass nicht nur das Publikum, sondern auch die Musiker:innen selbst womöglich nicht alle Brücken zu den altbekannten und lieb gewonnenen Werken, Stilistiken und Aufführungspraktiken abreißen wollen würden. Es wäre vermessen, zu behaupten, dass die Musiker:innen, sei es auch die dreißigste Aufführung der Zauberflöte oder das fünfzigste Cover von „Summertime“, ihre Tätigkeit nicht genießen würden.
Wenn aber die Kunst etwas bewegen soll, wenn Musik mehr sein soll als Zeitvertreib und Entspannung, wäre eine „neue Sensibilität“ bezüglich der eigenen Kunst wohl auch für die Musiker:innen selbst gefragt. Ein neues Aneignen der alten Werke, das Mozart-Konzert nicht mehr für das Probespiel oder „das Publikum“ vorbereiten zu müssen, könnte bereits ein Ansatz sein; ebenso wie eine kritischere Auswahl der aufgeführten Werke vonseiten derjenigen, die einen Einfluss auf diese Wahl haben; oder für Jazz-Musiker:innen ein Verlassen der ausgetretenen Pfade in den Bereichen Komposition und Improvisation, die Adorno seinerzeit möglicherweise in einer zu starken Verallgemeinerung, aber vermutlich nicht vollkommen unberechtigt, kritisierte (Adorno 2018:125–26).
- Fazit
Mit diesem kurzen Ausblick sollte deutlich geworden sein, dass die Überlegungen von Adorno, Horkheimer und Marcuse zum Thema Kunst und Musik auch heute noch Beachtung verdienen. Dazu möchte ich bemerken, dass die hier behandelten Werke selbstverständlich nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Schaffen der Autoren darstellen, und dass sicherlich durch weitere Beschäftigung mit ihren Werken weitere gewinnbringende Erkenntnisse gewonnen werden könnten – insbesondere Adorno hat schließlich viel Material zum Thema Musik und, nicht zu vergessen, eine Theorie der Ästhetik hinterlassen. Doch auch die hier betrachteten Ausschnitte können heute noch Ansatzpunkte für eine kritische Betrachtung der Musik, Kunst und Gesellschaft bieten.
Es besteht Anlass zu der Vermutung, dass die Kulturindustrie weiterhin ein angemessenes Konzept darstellen kann, um Eigenschaften der Sphäre der leichten Kunst zu beschreiben – eine Untersuchung von Phänomenen wie der Vermarktung von Musik über soziale Medien und Streaming-Plattformen könnten hier einen interessanten Ansatzpunkt für weitere – auch empirische – Forschung bilden; aber auch neue popkulturelle Phänomene wie die rasch angestiegene Beliebtheit des K-Pop könnten unter einer kritischen Perspektive betrachtet werden.
Was die Verbindung von Kunst bzw. Musik und Befreiung betrifft, stellt sich auch hier die Frage nach der Henne und dem Ei: würde ein Wandel in der Behandlung von Musik durch Öffentlichkeit und Musiker:innen befreiende Effekte haben, oder setzt der Wandel eine vorhergehende Befreiung von kapitalistisch geprägten Bedürfnisstrukturen voraus? Auch Marcuse konnte diesen Teufelskreis nicht zur vollsten Befriedigung auflösen. Doch wäre es sicherlich ein Anfang, diejenigen Akteur:innen, die es sich leisten können, dazu zu ermutigen, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und sich von Altbekanntem zu lösen, um „neue Wahrnehmungsweisen“ (Marcuse 2008:63) zu entdecken – für sich selbst wie für das Publikum. Kritisches Verhalten in der eigenen künstlerischen Arbeit, Sensibilität und Sensibilisierung können vielleicht ein erster Schritt zu einer freieren Kunst sein, die wiederum eine freiere Gesellschaft befördert.
Literaturverzeichnis
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