Hegels Assimilation von Glauben an Wissen
Die Darstellung der Philosophie G.W.F. Hegels in Jürgen Habermas‘ Auch eine Geschichte der Philosophie
1. Einleitung
Seinen 2019 an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. gehaltenen Vortrag begann Jürgen Habermas mit einer Anekdote über eine Begegnung mit Richard Rorty, der bemerkt habe, die Deutschen gingen immerfort zwischen Kant und Hegel hin und her – Habermas habe die Aufzählung durch Marx ergänzt[1]. Mag dies auch halbwegs scherzhaft gemeint gewesen sein, so scheint es doch als eine Selbstverständlichkeit, dass Habermas‘ 1700 Seiten starkes zweibändiges Werk Auch eine Geschichte der Philosophie nicht ohne ausführlichen Bezug auf diese drei Denker auskommen kann. Diese Arbeit soll untersuchen, unter welchen Aspekten die Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels im Kapitel IX.3. des zweiten Bandes eingeführt wird.
Habermas‘ Bezugsrahmen ergibt sich durch die vorhergegangene Behandlung Humes und Kants bzw. des Empirismus und Rationalismus als philosophische Spielarten der Aufklärung, sowie von Herder, Schleiermacher und Humboldt unter dem Gesichtspunkt einer frühen „linguistischen Wende“. Im Vergleich mit diesen Vorgängern und Zeitgenossen zeigt sich bereits, wie Hegels Philosophie sowohl als konservativ wie als fortschrittlich gedeutet werden kann.
Kants Philosophie, insbesondere der subjektphilosophische Rahmen, wird laut Habermas von Hegel weiterhin als Basis vorausgesetzt, jedoch auch stark kritisiert und weiterentwickelt: insbesondere die Isoliertheit des Subjekts, die sowohl in der theoretischen als auch in der praktischen Philosophie Kants zum Problem wird, möchte Hegel überwinden; er ist laut Habermas der erste Philosoph, der Sozialität von Anfang an mitdenkt. Den „leeren Formalismus“ der kantischen Philosophie[2] will Hegel mit Leben füllen; dabei spielt nicht zuletzt der christliche Glaube eine entscheidende Rolle.
Da es sich bei Habermas‘ Werk „auch“ um eine Geschichte der Philosophie handelt, soll seine Hegel-Darstellung zunächst unter dem philosophiegeschichtlichen Blickwinkel zusammengefasst werden; sodann soll dem Untertitel des zweiten Bandes, Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Rechnung getragen werden, indem die Arbeit sich der Religionsphilosophie Hegels zuwendet. Zuvor sollen allerdings einige Grundzüge des Hegelschen Denkens in aller Kürze angesprochen werden.
2. Grundzüge der Philosophie Hegels
In Habermas‘ Kapiteln zu Hegel stößt die Leserin immer wieder auf Figuren von Dreischritten nach dem Prinzip These, Antithese, Synthese. So stellt sich etwa der „geschichtliche Bewegungsrhythmus“ dar, den Hegel zu erkennen meint: eine Gesellschaft bewegt sich aus dem Ausgangszustand sittlicher Verfasstheit in eine Situation der Vereinzelung und „Zersplitterung“, um schließlich kraft der Vernunft zur „Versöhnung in einer erweiterten und differenziert vertieften sittlichen Totalität“ zu gelangen[3].
Laut der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften versteht Hegel diese Dreigestalten als „Momente jedes Logisch-Reellen, das ist jedes Begriffes oder jedes Wahren überhaupt“; die drei Schritte werden hier jeweils als „abstrakte oder verständige“, „dialektische oder negativ-vernünftige“ sowie „spekulative oder positiv-vernünftige“ Seite des Logischen bezeichnet[4]. Für Hegel scheint die gesamte Wirklichkeit also aus jenen drei Elementen zu bestehen. Folglich finden sich derartige dialektische Figuren etwa in den drei „dem Denken zur Objektivität gegebenen Stellungen“[5] aus der Enzyklopädie[6], auf die Habermas im vorliegenden Kapitel Bezug nimmt[7], aber beispielsweise auch in der Einleitung zu den Grundlinien einer Philosophie des Rechts[8] sowie in der Phänomenologie des Geistes, wo Hegel über die Vorstufen des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins zum absoluten Geist in seinen Ausformungen Vernunft, Religion, Geist und Wissen gelangt[9]. Der dritte Schritt scheint dabei immer ein Moment der Vermittlung oder Versöhnung zu beinhalten: „Das Spekulative oder Positiv-Vernünftige faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das Affirmative, das in ihrer Auflösung und ihrem Übergehen enthalten ist“[10].
Laut Habermas ist dieser Fokus auf Versöhnung nicht nur erkenntnistheoretisch von Bedeutung; er erkennt bei Hegel auch einen „evaluativen Vorrang des Allgemeinen vor dem vergleichsweise negativ besetzten Besonderen und Individuellen“[11] bzw. „der ‚Aufhebung vor der Trennung‘“[12]. Auch in den hier von Habermas behandelten Aspekten von Hegels Philosophie scheint die Versöhnung als Telos stets präsent zu sein: etwa seien Fortschritte in der Individuierung für Hegel nur ein Gewinn, solange auch wieder Versöhnung durch Einbettung in ein sittliches Ganzes möglich sei[13]. Ein handelndes Subjekt verändere als erkennendes Subjekt seine Stellung zur Objektivität und erkenne seine Bestimmung „im objektiven Geist als dem ‚eigentlichen‘, höherstufigen ‚Selbst‘“; es komme somit zur „Selbstaufhebung des subjektiven Geistes in einen umfassenden objektiven Geist“[14].
Laut Habermas wird Hegel „durch eine geschichtliche Problemlage […] zur Einführung des innovativen Begriffs des objektiven Geistes genötigt“[15]. Diese Problemlage führe ich unter 3.1. aus; die Genese des Begriffs des Geistes wird von Habermas im vorliegenden Kapitel jedoch nicht näher erläutert und kann deshalb auch nicht Gegenstand dieser Arbeit sein. Ebensowenig wird es mir gelingen, jede begriffliche Unschärfe zu tilgen, die sich aus Hegels eigenwilliger Terminologie ergeben kann – in seiner Hinleitung zum Thema der Religion bei Hegel verwendet Habermas innerhalb von zwei Seiten etwa die Begriffe „konkret Allgemeines“, „Absolutes“, „absolute Idee“, „absoluter Geist“, „Totalität“, „Für-sich-sein der Idee“, die dabei alle ungefähr jenen Zustand der Versöhnung, Vermittlung, Aufhebung zu beschreiben scheinen, auf den Hegels Dialektik hinzielt[16]. Über die feinen Unterschiede dieser von Habermas sicherlich sehr bewusst eingesetzten Bezeichnungen muss in Angesicht der begrenzten Möglichkeiten einer Seminararbeit hinweggegangen werden.
3. Philosophiegeschichtliche Einordnung: Hegels Verhältnis zu Zeitgeschehen und Zeitgenossen
- Hegel in seiner Zeit
Laut Habermas denkt Hegel als erster Philosoph historisch und hat ein Interesse an der Entstehung der europäischen Moderne[17]. Habermas hebt hervor, dass Hegel nicht nur den „Aspekt der unvertretbaren Verantwortlichkeit des Einzelnen unter dem normativen Gesichtspunkt der Handlungsfreiheit und der Zurechenbarkeit von Handlungen“[18] aus den Vernunftrechtstheorien übernimmt, von denen die Kantische Pflichtethik das vielleicht hervorstechendste Beispiel darstellt, sondern sich auch den Human- und Geschichtswissenschaften zuwendet. Diese hätten den Fokus erstmals auf die „Unverwechselbarkeit“ der in bestimmte historische, gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge eingebetteten Individuen gelegt, „aus deren Perspektive die zu erklärenden Phänomene zugänglich sind“[19].
Auch die von Hegel genutzte begriffliche Konstellation vom Einzelnen, Besonderen und Allgemeinen sei zuerst im Historismus aufgekommen. Hegel nutze diese Begriffe, um die beobachtete Gefährdung des sozialen Zusammenhalts zu begreifen, „gewissermaßen in klinischer Absicht“[20]. Eine der ältesten philosophischen Fragestellungen tauche hier in historisch aktualisiertem Zusammenhang wieder auf:
Wie lässt sich im Rahmen einer wirtschaftlich mobilisierten, beschleunigt komplexer werdenden Gesellschaft die prekäre Balance zwischen fortschreitender Individuierung und Entfremdung einerseits, den Solidaritäten der vertrauten Herkunftswelten andererseits so weit aufrechterhalten, dass das soziale Band nicht reißt?[21]
Im Zentrum dieser Fragestellung erkennt Habermas weiterhin „das Kantische Thema vernünftiger Freiheit“[22], auch wenn er bei Hegel zeitkritische Beobachtungen vorfindet, die schon an Marx denken lassen: Habermas zufolge hebt sich Hegel von zeitgenössischen Philosophen ab, indem er die Politische Ökonomie und „Schattenseiten des industriegesellschaftlichen Kapitalismus“ in den Blick nimmt und eine deutliche Skepsis gegen den Marktliberalismus an den Tag legt[23]. In Hegels Interpretation des Zeitgeschehens individuiere sich der Warenbesitzer und befreie sich aus „einer tradierten, […] als einschränkend, repressiv oder ungerecht empfundenen Form der Sittlichkeit“ – was paradoxerweise nur durch die Durchsetzung allgemeiner privatrechtlicher Normen möglich sei[24]. Diesem bürgerlichen Privatrecht entsprächen für Hegel die auf vernunftbasierte Moralität abzielenden Pflichtethiken[25], die, wie in 3.3. noch ausgeführt werden wird, gleichermaßen wie der gesellschaftliche Zustand der Vereinzelung überwunden werden müssten: eine „vom Staat wiederhergestellte sittliche Totalität“ solle die Marktwirtschaft in ihre Schranken weisen und die vereinzelten Individuen wieder in eine Einheit einbinden[26].
- Hegel versus Metaphysik
Hegel behandelt die „vormalige Metaphysik, wie sie vor der Kantischen Philosophie bei uns beschaffen war,“ in der ersten von drei „Stellungen des Gedankens zur Objektivität“ in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften[27]. Die Metaphysik habe Gegenstände wie „Seele, Welt, Gott […] als fertige gegebene Subjekte“ angenommen[28], „noch ohne das Bewußtsein des Gegensatzes des Denkens in und gegen sich“ miteinbezogen zu haben[29]. Dieses „unreflektiert vergegenständlichende[] Denken“ war laut Habermas bis zur Aufklärung kennzeichnend für die „rationalistische[] Schulmetaphysik“[30].
Diese wird von Hegel auf den Status eines abgeschlossenen philosophiegeschichtlichen Kapitels hinabgestuft, aber dennoch nicht vollständig abgeschrieben: metaphysisches Denken als „bloße Verstandesansicht der Vernunftgegenstände“ sei ein immer wieder zu durchschreitender Teil des Erkenntnisprozesses[31].
Habermas merkt an, dass Hegels Philosophie sogar in gewisser Weise das Ziel der Metaphysik beibehält[32], insofern alle Subjekte als Totalität begriffen werden sollen: der objektive Geist muss „als individuelle Totalität und Inbegriff einer den Weltprozess als solchen steuernden Gesetzmäßigkeit gedacht werden können“, und zwar „in Gestalt einer Metaphysik“, auch wenn diese „nach Kant und der Aufklärung nicht mehr die Gestalt eines Weltbildes annehmen darf“[33]. Hegels Ziel sei es, „das Ganze einer tatsächlich nur performativ als Hintergrund und Horizont gegenwärtigen Lebenswelt zur Totalität zu vergegenständlichen“[34]. Diese Philosophie sei aber dennoch nachmetaphysisch zu nennen, weil die Totalität nicht „gegenständlich, als Inhalt einer Aussage“ begriffen werde, sondern als Performanz, oder in Habermas‘ Formulierung als „unendlicher Kreis von Kreisen der […] unendlich prozessierenden Vermittlungen“[35].
- Hegel versus Kant
Habermas zeigt im vorliegenden Kapitel auf, dass Hegel einerseits auf Kants Philosophie aufbaut, andererseits auch starke Kritik an seinem Vorgänger geäußert hat. Bekanntermaßen hat Hegel Kants Moralphilosophie als wirkungslosen, „leeren Formalismus“ bezeichnet, der nicht fähig sei, zur tatsächlichen „Bestimmung von besonderen Pflichten“ überzugehen[36]. Diese Kritik scheint nach Habermas‘ Darstellung in zugrundeliegenden epistemologischen Voraussetzungen zu wurzeln: in Hegels Augen könne die Erkenntnis durch die kantischen Kategorien nicht die Dinge an sich erkennen[37]; die Kategorien sind laut Hegel „als Einheiten bloß des subjektiven Bewusstseins […] für sich leer“[38]. Bei Kant stünden sich Sein und Sollen ebenso wie Erscheinung und Ding an sich unvermittelt gegenüber, weshalb das vernünftig wollende bzw. erkennende Subjekt ohnmächtig sei gegenüber der Realität von Geschichte bzw. Natur[39] – Kant verharre in der an „Ohnmacht und […] Narzissmus“ krankenden „zweiten Stellung des Gedankens zur Objektivität“ [40].
Habermas weist darauf hin, dass Kant in der Kritik der Urteilskraft das für Hegel so bedeutsame Verhältnis der Begriffe des Allgemeinem und Besonderem in der Beziehung zwischen anschauendem Verstand und Kunstwerk untersucht; er hat hier laut Hegel „die Vorstellung, ja, den Gedanken der Idee ausgesprochen“[41]. Die Urteilskraft sei für Kant aber kein Erkenntnisvermögen, sondern lediglich eine Heuristik[42]: Allgemeines und Besonderes würden nicht wirklich miteinander versöhnt, „[e]s verknüpft sich damit […] nicht die Einsicht, daß jenes das wahrhafte, ja die Wahrheit selbst ist“[43] – Kant verbliebe beim „Als ob“[44]. Für Hegel sei dagegen das „Versöhnungsmotiv“ der entscheidende Antrieb, was von Habermas an dieser Stelle wiederum auf die Einflüsse der Geschichtswissenschaften zurückgeführt wird: Subjekte seien nun einmal in gesellschaftliche, kulturelle, historische Zusammenhänge eingebettet, „und diese [Umgebung] darf nicht als bloß empirisch abgetan, sie muss vielmehr philosophisch als eine selbständige Sphäre des Geistes […] ernst genommen werden“[45].
Es sei also notwendig, zur „dritten Stellung des Geistes zur Objektivität“ überzugehen: zum objektiven Idealismus. Ziel sei dabei auch eine Überwindung der Gegensätze der Kantischen Philosophie durch Begriffe einer „nun verallgemeinerten Dialektik des Einzelnen, Besonderen und Allgemeinen“[46]. Diese könne allerdings in der aktuellen geschichtlichen Situation noch nicht in der Praxis erkannt werden, da individuelle Totalitäten von Staatsnationen sich unversöhnlich gegenüberstünden; der objektive Geist gehe in der Wirklichkeit nicht auf[47].
Hegels Lösungsansatz sei nun, durch die Theorie zu jener Stufe hinzuführen, auf der „der Geist, der in der Arbeit seiner dialektischen Verkettung der realen Glieder des Weltprozesses nicht ganz aufgeht, seiner selbst als die prozessierende Totalität ansichtig und begreiflich wird“[48]. Um diesen absoluten Geist und den Begriff des „konkreten Allgemeinen“ fassbar zu machen, bietet sich für Hegel insbesondere „die Wissensform der Religion“, der Glaube, an[49].
- Hegel versus Schleiermacher
Bei der Betrachtung der Differenzen zwischen Hegel und Schleiermacher rückt Habermas das Thema Religion in den Vordergrund.
Zunächst betrachtet er Hegel jedoch in Bezug auf den vorangegangenen Abschnitt zur „linguistischen Wende bei Herder, Schleiermacher und Humboldt“[50] und stellt Unterschiede fest. Einerseits scheint Hegel im Bereich der Sprachphilosophie hinter seine etwas älteren Zeitgenossen zurückzufallen: laut Habermas sind für Hegel „Sprachzeichen etwas Nachträgliches“[51], während Schleiermacher Sprache als konstitutiven Teil von gedanklichen Prozessen versteht[52], wobei Sprache und Denken einander gegenseitig bedingen[53]. Andererseits treibt Hegel die Idee von Intersubjektivität auf die Spitze, die Habermas bei Schleiermacher bereits in Ansätzen vorhanden[54], aber nicht zu Ende gebracht findet[55]; ähnlich bei Herder und Humboldt[56]. Hegel siedele die intersubjektiven Relationen bereits vor der sprachlichen Ebene an, diese seien „von einem höherstufigen Subjekt bereits gestiftet[]“[57].
Habermas interessiert sich sodann für die Kritik, die der Philosoph Hegel am Theologen Schleiermacher übt, und die ihn teilweise als den Konservativeren bzw. Dogmatischeren von beiden erscheinen lässt. Hegel habe sich zunächst gegen Schleiermachers nonkognitivistische Definition von Religion[58] als „implizit oder unerklärt bleibenden Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ gerichtet, das neben Verstandeserkenntnis, freiem Willen bzw. Moral und Urteilskraft bzw. ästhetischer Erfahrung einen eigenen Stellenwert habe[59]. Laut Hegel bliebe die Religion als Gefühl begriffen inhaltslos, vorstellungslos, handlungslos und subjektiv[60].
Außerdem seien für Hegel kultische Handlungen der „kognitive[] Kern eines begrifflich explizierbaren Denkens“ und damit essenzieller Teil der Religion, während diese in Schleiermachers Augen mit diskursivem Denken nichts zu tun hätten[61]. Ebenso hätten Kirche und Sakramente bei Schleiermacher an Bedeutung verloren – wie übrigens auch bei Kant[62] –, während Hegel an ihnen festhielte[63]; die Gründe dafür werden später noch ausgeführt.
Während Schleiermacher als früher Verteidiger eines religiösen Pluralismus aufgetreten sei[64], die Religion als akademische Disziplin neben anderen ins „Gehäuse der Moderne“ eingegliedert[65] und seine eigenen Rollen als Theologe und Philosoph strikt getrennt habe[66], scheint Hegel für eine umfassende Integration von Glauben und Philosophie einzustehen – allerdings ausschließlich und explizit bezogen auf den christlichen Glauben[67]. Letzteres dürfte sicherlich der Zeit und einer eurozentristischen Sichtweise[68] geschuldet sein – laut Habermas steht z.B. auch bei Schleiermacher das Christentum für die „höchste[] Form des religiösen Bewusstseins“[69] – allerdings stützt sich Hegels Religionsphilosophie tatsächlich zu einem großen Teil auf die christliche Vorstellung von der Menschwerdung Gottes, wie in 4.2. ausgeführt wird.
4. Glauben und Wissen: der hohe Stellenwert der Religion bei Hegel
- Die Wissensform der Religion
Die Bedeutung des Glaubens scheint sich bei Hegel auf die praktische Frage zu beziehen, wie Menschen sich im sittlichen Zusammenhang wiederfinden und an ihm teilhaben können. Habermas widmet sich dabei, dem Buchtitel entsprechend, zunächst dem Verhältnis von Religion und Philosophie: Aufgabe der Philosophie sei nach Hegel nicht Naturerkenntnis, sondern das Wirken als „denkende Kraft der Vereinigung“; sie solle „inmitten einer zerrissenen Moderne die Wiederherstellung der Integrität eines versöhnten Zusammenlebens lehren“[70] – inwiefern Habermas dies als Hegels Reaktion auf das Zeitgeschehen auslegt, wurde unter 3.1. ausgeführt.
Hegel ist laut Habermas der erste Philosoph, der nicht aus methodischer Sorgfalt das Wissen vom Glauben „aussortier[t]“, auch wenn er die durch die Aufklärung vorgenommene Trennung von Glauben und Wissen nicht leugnet[71]. Immer noch habe die Philosophie das letzte Wort; sie solle nun aber den von Kant noch abgestreiften „Traditionsballast“ der Religion – Seelsorge, Kultus, Verkündigung – inkludieren[72]. Der kultische Kern der Religionen sei für Hegel essenziell, um die integrierende Kraft der Religion freizusetzen[73].
Habermas zitiert Hegel:
Die Philosophie ist nicht Weisheit der Welt, sondern Erkenntnis des Nichtweltlichen […]. Die Philosophie expliziert daher nur sich, indem sie die Religion expliziert, und indem sie sich expliziert, expliziert sie die Religion. […] So fällt Religion und Philosophie in eins zusammen […].[74]
Glaube und Wissen seien für Hegel nicht nur kompatibel, sondern inhaltlich identisch: „Was der Glaube im Modus der Vorstellung enthält, entfaltet die Philosophie begrifflich“[75].
Neben der Religion spielt für Hegel zwar auch die Kunst eine wichtige Rolle bei der Suche nach dem „konkrete Allgemeinen“: die Kunst mache dieses anschaulich und erfahrbar. Jedoch sei die Anschauung des Absoluten im Kunstwerk noch nicht dessen Begriff[76].
Erst im Glauben wird laut Hegel das Absolute „gewusst“ und aussagbar[77]. Wenn auch die Vermittlung zwischen Absolutem und „seinem Anderen“ nur für philosophische Erkenntnis vollständig begriffen werden könne, sei sie doch für Gläubige, ganz unabhängig von deren Bildungsgrad, im religiösen Bewusstsein vorstellbar; nur hier könne das Wissen vom Objektiven „allgemeine Verbreitung unter den endlichen Subjekten“ erlangen[78]. Der absolute Geist komme „in der innerlichen Beziehung der gläubigen Person zu Gott als Schöpfer und Erlöser zur Vorstellung“, der Glaube sei für ein Individuum realistisch gesehen „der einzig mögliche Modus des ‚Wissens‘ vom Absoluten“ – denn ein intellektuelles Begreifen würde länger dauern als ein Menschenleben[79].
- Gott und Menschwerdung bei Hegel
Habermas beschäftigt sich recht ausführlich mit Hegels Gottesvorstellung, denn bei Hegel „offenbart sich [Gott] als derjenige, der sich in den dialektischen Verknüpfungen des Weltprozesses selber in Gestalt einer alles bewegenden, autorisierenden und wissenden Subjektivität begegnet“[80]. Es mag nun verwirrend erscheinen, dass ausgerechnet durch die Vorstellung von Gott als absolutem Subjekt jener absolute Geist, die absolute Idee, für die Menschen erfahrbar und werden soll – wollte Hegel in seiner Kritik an Kant nicht „die Schranke der bloßen Selbstbeziehung der erkennenden Subjektivität überschreiten“[81] oder zumindest auf eine niedrigere Stufe des Erkenntnisprozesses herabstufen? Jedoch ist es laut Habermas Hegels Ziel, das „Problem der Gefährdung und Wiederherstellung des sozialen Zusammenhalts […] in Begriffen der Subjektphilosophie“ zu lösen[82]. In diesem Abschnitt soll etwas deutlicher werden, was das bedeutet.
Laut Lu de Vos hat Hegel eine „übergreifende“ Subjektivität in gewissen Kontexten tatsächlich als „Subjekt-Objekt oder Idee“ bezeichnet, worin
beide, die einseitige Subjektivität und der Schein der Selbstständigkeit der Objektivität, verschwunden [sind], weil das bloß Subjektive sowie das bloß selbstständige Objekt keine Wahrheit haben. […] Die Idee selbst spaltet sich in Subjekt und Objekt, die ihre Bestimmtheit als Idee nur aufeinander bezogen ausmachen, sofern die Idee nur in beiden sie selbst ist.[83]
Entsprechend ist Gott in Hegels Worten „Einheit seiner Absolutheit mit der Besonderheit“[84], eine übergreifende Subjektivität, die sich nicht über ein Anderes bestimmt, sondern dieses Andere in sich selbst beinhaltet[85]; an früherer Stelle formuliert Habermas, dass der „absolute, die Welt im Ganzen bewegende Geist […] nicht nur den objektiven und den subjektiven Geist in sich [begreift], sondern […] auch die physikalische und organische Natur, also das materielle Andere des Geistes“[86]. Diese „paradoxe Natur“[87] kommt in Bezug auf Gott insbesondere in dessen Menschwerdung zum Ausdruck.
Laut Habermas wird Gott von Hegel mehr als Prozess denn als Person gedacht[88] – dies scheint Hegels Bestimmungen des Geistes als „Performanz der ‚aufhebenden‘ Vermitt-lungsakte aller transitorisch gesetzten Besonderungen und Vereinzelungen des Allgemeinen im konkreten Allgemeinen“[89], als „unendlicher Kreis von Kreisen der […] unendlich prozessierenden Vermittlungen“[90] zu entsprechen. In diesem Prozess macht sich Gott nun zum Menschen: die Menschwerdung erscheint bei Hegel in Habermas‘ Formulierung als „narzisstische[] Selbstvermittlung des absoluten Geistes mit seinem ‚Anderen‘“ – als absoluter Geist, der „Geist für den Geist“ sein will[91]. Im Tod Jesu Christi sei Gott selbst gestorben, für Hegel manifestiere sich hier der Schmerz der unendlichen Entzweiung, den der absolute Geist trotz aller Vermittlung und Versöhnung in sich trage[92].
Es wird hier nun deutlich, dass Hegel in der Tat die Errungenschaften der Subjektphilosophie nicht aufgeben möchte: nach Habermas‘ Einschätzung will Hegel vermeiden, dass das Absolute in der Besonderung, die die Menschwerdung darstellt, „nur ‚maskiert‘“ erscheint, weil er „die christliche Zuspitzung auf Individuierung und verantwortliche Autonomisierung der einzelnen Person nicht preisgeben“ möchte[93]. Das Anderssein der Menschen, ihre „Endlichkeit, Schwäche, Gebrechlichkeit“, solle sich nicht als unvereinbar mit der göttlichen Einheit herausstellen[94]. Tod und Auferstehung verdeutlichten bei Hegel den „ewigen Prozess von Entäußerung und Rückkehr des Absoluten zu sich“, die Gläubigen erwarte „Versöhnung in der Erkenntnis […], dass sie am göttlichen Schicksal teilhaben“, dass göttliche und menschliche Natur eine Einheit sind[95].
Habermas zitiert Hegel hierzu wie folgt:
So kann der Mensch sich aufgenommen wissen in Gott, insofern ihm Gott nicht ein Fremdes ist, er sich zu ihm nicht als ein äußerliches Akzidenz verhält […]; dies ist aber nur möglich, insofern in Gott selbst diese Subjektivität der menschlichen Natur ist.[96]
Das moderne, selbstständige, aufgeklärte menschliche Subjekt soll also bei Hegel nicht in metaphysische Zustände zurückfallen, sondern in seiner Subjektivität bestehen bleiben; gleichzeitig soll jedoch die als schädlich empfundene Vereinzelung durch das Bewusstsein einer Einbindung in eine übergreifende Sittlichkeit überwunden werden.
5. Fazit und Ausblick
Nach diesem Durchgang durch Habermas‘ Betrachtungen scheint sich ein gewisser praktischer Anspruch wie ein roter Faden durch Hegels Philosophie zu ziehen: in der stets präsenten Versöhnung als Zielvorstellung scheint das Versprechen einer zufriedenen Gesellschaft zu liegen, die die Gefahren des aufkommenden Marktliberalismus erfolgreich in Schach hält. Umso überraschender mutet der Schluss des Kapitels an, der der Hegelschen Philosophie ihre Wirkmächtigkeit absprechen zu wollen scheint:
Indem der Philosoph die Selbstbewegung des Begriffs als solche erkennt, hat er sich im Denken ebenso über sich, also den subjektiven Geist der denkenden Person in ihrer täglichen Existenz, wie über den objektiven Geist der historischen Zeitgenossenschaft hinaus auf das Niveau des an und für sich seienden Geistes aufgeschwungen. Auf dieser Reflexionsstufe des Für-sich-Seins der absoluten Idee bezahlt der Philosoph, der im Erkennen aufgeht, die Levitation seines Geistes mit der Unfähigkeit, auf die Welt praktisch zurückzuwirken.[97]
Nachdem Habermas unablässig die Präsenz des Versöhnungsmotivs und den Wunsch nach Überwindung der Vereinzelung bei Hegel betont hat, mag dieser Ausgang des Kapitels etwas überraschend anmuten. Hegels Fokus auf die Religion erscheint diesbezüglich allerdings schlüssig: je wirkungsloser die Philosophie, umso wichtiger ist vielleicht die religiöse Praxis, durch die handelnde Subjekte zumindest eine Vorstellung von dem zu erreichenden Zustand der Versöhnung durch die Teilhabe am absoluten Geist haben können.
Habermas lässt schon im vorliegenden Kapitel erkennen, wo er Schwächen in Hegels Philosophie ausmacht: der „bahnbrechend neue[] philosophische Gedanke einer Individuierung durch Vergesellschaftung“ beinhaltet in Habermas‘ Augen nicht zwingend den „Vorrang der sittlichen Totalität als solcher vor den miteinander versöhnten Individuen“[98] – diesen habe Hegel nur aus Mangel an intersubjektivitätstheoretischen Begriffen konstatieren müssen[99]. Das folgende Kapitel wird sich mit dem „konservativ gewordene[n] Hegel]“[100] auseinandersetzen, für den die Vernunft die Welt und die Geschichte beherrscht[101] und gegen den Marx seine Kritik richten wird[102].
Obgleich Habermas den Eingang von sozialen Faktoren in die Philosophie bei Hegel würdigt[103], bleibt auch Kant wichtig, mit dem Habermas der „moralische[n] Stimme des gewissenhaften Einzelnen“[104] gegenüber dem sittlichen Gemeinwesen weiterhin angemessene Bedeutung beimessen kann. In jedem Fall sollte durch die Beschäftigung mit den hier behandelten Ausschnitten von Auch eine Geschichte der Philosophie deutlich geworden sein, warum es für Habermas immer noch lohnend erscheint, sich zwischen Kant, Hegel und Marx hin und her zu bewegen.
[1] „Noch einmal: Zum Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit“. Vortrag von Jürgen Habermas.
[2] Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 252.
[3] Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2, 477.
[4] Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 168.
[5] Hegel, 91.
[6] Hegel, 93–168.
[7] Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2, 472, 488–93.
[8] Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 87–88.
[9] Hegel, Phänomenologie des Geistes, 5–7, 446–47.
[10] Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 176.
[11] Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2, 476.
[12] Habermas, 478.
[13] Habermas, 477–78.
[14] Habermas, 472.
[15] Habermas, 380.
[16] Habermas, 495–96.
[17] Habermas, 473.
[18] Habermas, 473.
[19] Habermas, 473.
[20] Habermas, 474.
[21] Habermas, 474.
[22] Habermas, 473.
[23] Habermas, 474–75.
[24] Habermas, 476.
[25] Habermas, 476–77.
[26] Habermas, 476.
[27] Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 93.
[28] Hegel, 97.
[29] Hegel, 93.
[30] Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2, 489.
[31] Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 93.
[32] Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2, 497.
[33] Habermas, 482.
[34] Habermas, 482.
[35] Habermas, 497.
[36] Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 252.
[37] Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2, 489–90.
[38] Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 119–20.
[39] Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2, 490.
[40] Habermas, 490.
[41] Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 140.
[42] Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2, 491.
[43] Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 140.
[44] Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2, 491.
[45] Habermas, 491.
[46] Habermas, 493.
[47] Habermas, 493.
[48] Habermas, 493.
[49] Habermas, 494.
[50] Habermas, 428.
[51] Habermas, 468.
[52] Habermas, 441.
[53] Habermas, 443.
[54] Habermas, 444–45.
[55] Habermas, 449.
[56] Habermas, 470.
[57] Habermas, 472.
[58] Habermas, 482.
[59] Habermas, 483–84.
[60] Habermas, 484.
[61] Habermas, 485.
[62] Habermas, 480.
[63] Habermas, 480, 485–86.
[64] Habermas, 486.
[65] Habermas, 482.
[66] Habermas, 483.
[67] Habermas, 488.
[68] Habermas, 509.
[69] Habermas, 486.
[70] Habermas, 479.
[71] Habermas, 480.
[72] Habermas, 480.
[73] Habermas, 479.
[74] Habermas, 479–80.
[75] Habermas, 481.
[76] Habermas, 495.
[77] Habermas, 495.
[78] Habermas, 503.
[79] Habermas, 496–97.
[80] Habermas, 497.
[81] Habermas, 490.
[82] Habermas, 481.
[83] de Vos, „Subjekt“, 432.
[84] Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2, 499.
[85] Habermas, 497.
[86] Habermas, 380.
[87] Habermas, 502.
[88] Habermas, 499–500.
[89] Habermas, 496.
[90] Habermas, 497.
[91] Habermas, 500.
[92] Habermas, 501.
[93] Habermas, 501.
[94] Habermas, 501.
[95] Habermas, 503.
[96] Habermas, 503.
[97] Habermas, 504.
[98] Habermas, 478.
[99] Habermas, 478, 525.
[100] Habermas, 539.
[101] Habermas, 515.
[102] Habermas, 535.
[103] Habermas, 548.
[104] Habermas, 549.
Literaturverzeichnis
Habermas, Jürgen. Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen. Erste Auflage. Berlin: Suhrkamp, 2019.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen. Herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Werke 8. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Herausgegeben von Eva Moldenhauer. 15. Auflage. Werke 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2017.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Phänomenologie des Geistes. Herausgegeben von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede. Gesammelte Werke 9. Hamburg: Meiner, 1980.
„Noch einmal: Zum Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit“. Vortrag von Jürgen Habermas, 2019. https://www.youtube.com/watch?v=tTARPzTLk94.
Vos, Lu de. „Subjekt“. In Hegel-Lexikon, herausgegeben von Paul Cobben, Paul Cruysberghs, Peter Jonkers, und Lu de Vos, 430–34. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006.